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Corona: Wie heftig der Ausbruch in Taiwan wirklich ist

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Das Corona-Virus hat Taiwans Verteidigung durchbrochen. Die neue Realität ist nun auch hier: Zuhause bleiben, vorsichtig sein, jeden Tag die Fallzahlen verfolgen. Hier erkläre ich einiges, das man wissen sollte.

Wir sind nun in der vierten Woche des „Lockdown Light“ hier in Taiwan, und mindestens bis Ende Juni soll er noch andauern. Die ursprünglich angesetzten zwei Wochen reichten nicht, um den Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen.

Seit Mitte Mai ist es ja vorbei mit Taiwans sorgen- und (fast) coronafreier Zeit. Aus einigen lokalen Clustern (einige Piloten, ein Quarantänehotel, eine Spielhalle) wurden zunächst mehr als 100, dann mehr als 300 neue lokale Infektionen täglich – und das hatte es seit Beginn der Pandemie in Taiwan noch nie gegeben.

Jetzt hören: Unser Podcast über das Leben in Taiwan mit Anti-Corona-Maßnahmen

Also aktivierte der Pandemie-Krisenstab CECC die dritte von vier Alarmstufen, wie man sie schon vor Monaten festgeschrieben hatte. Zunächst (15.5.) nur in Taipeh und New Taipei City, dann (19.5.) im ganzen Land.

Versuchen wir also, den aktuellen Stand einmal festzuhalten.

Wie ist die Corona-Lage im Moment?

  • Taiwan meldet aktuell (9.6.21) 274 neue lokale Covid-19-Fälle (importierte Fälle, also in der Quarantäne als infiziert erkannt Einreisende, fallen kaum noch ins Gewicht, werden aber natürlich auch noch gezählt).
  • Seit Beginn der aktuellen Maßnahmen liegt die tägliche Fallzahl, mit wenigen Ausreißern, zwischen 200 und 600. Tendenz leicht sinkend.
  • Es gab also kein exponentielles Wachstum.
  • Das Coronavirus verschwindet aber auch nicht einfach so wieder.
  • Seit Mitte Mai 2021 sind etwa 350 an Covid-19 erkrankte Menschen gestorben. Von Anfang 2020 bis Mai waren es gerade mal zwölf gewesen.
  • Im Umlauf in Taiwan ist die Alpha-Virusvariante (auch als britische Mutante bekannt).

So sehen die Covid-Fälle in Taiwan und der Sieben-Tage-Schnitt im Zeitverlauf aus:

Quelle der Grafik: Chase W. Nelson auf Twitter (er aktualisiert täglich). Aktuelle Zahlen und Diagramme auch immer beim Commonwealth-Magazine.

Wie schlimm ist die Pandemie-Lage in Taiwan im Vergleich?

  • Der 7-Tage-Schnitt von 373 bedeutet für ganz Taiwan eine Sieben-Tage-Inzidenz von ca. 11 bis 12 pro 100.000 Einwohner.
  • In Deutschland, wo man sich aktuell über den Rückgang der Pandemie freut, liegt die Inzidenz noch immer fast doppelt so hoch (aktuell 20,8).

Besonders gut vergleichen kann man Entwickungen in verschiedenen Ländern über die internationale Corona-Seite von Zeit.de. Hier zum Beispiel mit Deutschland, Japan und Taiwan:

Corona 7 Tage Inzidenz in Deutschland, Taiwan und Japan im Vergleich

Was sind Taiwans Corona-Maßnahmen?

  • Mittlerweile gilt für alle Restaurants in ganz Taiwan: Essen nur noch zum Mitnehmen.
  • Ansonsten gilt nach wie vor Stufe 3 (von 4): Maskenpflicht überall außer zuhause, Fernunterricht, keine Treffen von mehr als vier (innen) bzw. neun (außen) Menschen.
  • Kinos, Bars, Clubs, Fitness-Studios, Schwimmbäder, Museen etc. sind geschlossen.
  • Der Einzelhandel ist nach wie vor offen. Er muss inzwischen darauf achten, dass maximal ein Kunde pro Ping (3,3 qm) im Laden ist.
  • Friseure und Schönheitssalons sind auch noch offen.
  • Noch reden wir hier also von Einschränkungen, die nicht mit Deutschland etwa im Dezember/Januar vergleichbar sind.
  • Seine Besucherdaten kann man mittlerweile flächendeckend über ein sehr einfaches und schnelles SMS-Registrierungssystem mit QR-Codes hinterlassen.
  • Viele Unternehmen bieten inzwischen Home-Office an, aber eine Verpflichtung gibt es nicht.

Wie läuft das Impfen gegen das Coronavirus in Taiwan?

  • Nach fast zwölf Wochen hat Taiwan mehr als 700.000 Dosen verimpft.
  • Die Impfquote liegt damit etwas über drei Prozent der Bevölkerung.
  • Die Kampagne hat von Woche zu Woche Fahrt aufgenommen, aber Impfstoffe bleiben ein Engpass.

Jetzt lesen: Wie langsam die Impfkampagne in Taiwan anlief

  • Taiwan hat schon im Dezember/Januar Verträge für 20 Millionen AZ- und Moderna-Dosen unterschrieben (z.T. über Covax), aber sie werden nur sehr langsam geliefert.
  • Japan hat gerade 1,2 Millionen AZ-Dosen gespendet (China nannte das eine Einmischung, behauptet aber, sich nicht selbst einzumischen), die USA haben zunächst eine Spende von 750.000 Dosen zugesagt (Hersteller unklar, AZ oder eventuell Johnson & Johnson).
  • Die Verwendung chinesischer Impfstoffe ist nicht zulässig.
  • Taiwan hat zwei einheimische Impfstoffe in Phase-2-Tests und hofft auf baldige Eilzulassung. Hier mehr Infos zum Fortschritt der Entwicklung.
  • Taiwans Ziel ist bis Ende Oktober eine Erstimpfung für mindestens 60 Prozent der Bevölkerung. Dafür wäre ein Impftempo von ca. einer Million Spritzen wöchentlich bzw. 200.000 pro Werktag nötig. Der Spitzenwert bislang waren gut 60.000.

Die beste mir bekannte grafische Übersicht zum Impfprogramm findet sich hier.

Ich versuche auch mit meiner eigenen Grafik einen Überblick zu behalten:

Was ist in Taiwan bei Corona schief gelaufen?

Wie in Taiwans Politik üblich, ist vieles sehr umstritten, und die Opposition nutzt die Gelegenheit, die Regierung anzugreifen (was ja ihr Job und legitim ist). Große Uneinigkeit gibt es zum Beispiel über die Frage, welche Rolle chinesische Impfstoffe spielen könnten – oder ob man auf jeden Fall die Finger davon lässt.

Über folgende Punkte herrscht aber unter Beobachtern im Großen und Ganzen Einigkeit:

  • Die Behörden waren auf die Bekämpfung eines Corona-Ausbruchs nicht mehr so gut vorbereitet, wie sie es Anfang 2020 zu Beginn der Pandemie waren.
  • Die Gefährlichkeit der Alpha-Variante, die ja ab Ende 2020 um sich griff, wurde unterschätzt.
  • Die Bevölkerung war im April/Anfang Mai ziemlich sorglos geworden, und die Behörden hatten nicht gegengelenkt.
  • Bevor es ernst wurde, lief das Impfen viel zu langsam.
  • Es war ein Fehler, die Quarantäne für Airline-Crews zu verkürzen und nicht strenger zu überwachen.
  • Abschotten allein reicht nicht.
  • Einzelne Löcher im Quarantänesystem und anschließende Superspreader-Events ließen sich nicht auf ewig verhindern.
  • Die Behörden hatten vor dem Ausbruch keine ausreichenden Testkapazitäten aufgebaut.
  • Ein Problem sind laxe Vorgaben für Unternehmen (viele verweigern Home-Office) sowie Regelbrüche. So war es vorhersehbar, dass es Ausbrüche in eng belegten Quartieren für Gastarbeiter geben würde. Jetzt sollen sie in Miaoli außer zur Arbeit nicht mehr ihre Unterkünfte verlassen dürfen, was ich menschenverachtendend finde:
  • Arbeitnehmerrechte lassen viele Lücken für Ausbeutung und Abwälzen von Risiken (unbezahlter Urlaub, kein Äquivalent zum Kurzarbeitergeld).
  • Präsenzkultur und Überstundenzwang sind in Taiwans Büros ja sehr verbreitet. Chefs widerstrebt es oft, Angestellten Freiheiten zu lassen. (Es gibt anekdotische Fälle wie diesen: Ein Angesteller soll gefälligst unbezahlten Urlaub nehmen, wenn er zuhause bleiben will. Aber dann soll er bitte trotzdem von zuhause aus Arbeit erledigen.)
  • Besonders belastet durch die aktuellen Maßnahmen sind Eltern sowie Arbeiter, deren Tätigkeit sich nicht online erledigen lässt.
  • Wie in Deutschland wird m.E. zu wenig über die Gefahr durch Aerosole in Innenräumen gesprochen. Abstandhalten, Plexiglasscheiben, auch Masken helfen ja kaum, wenn feinste virustragende Tröpfchen sich ähnlich wie Rauchwolken in der Raumluft ausbreiten (hier ein grafisch exzellent umgesetztes Erklärstück dazu).

Wie reagieren die Taiwaner auf den Corona-Ausbruch und die Maßnahmen?

  • Anders als im Rest der Welt hatten die meisten Menschen noch keine Erfahrung mit dieser Situation.
  • Man hatte gehofft, der Ausbreitung dauerhaft entgehen zu können. Was bis vor ein paar Wochen Schauermeldungen aus dem Ausland waren, ist nun auch hier Realität.
  • Die meisten sind nun bereit zu Einschränkungen, auch über das Festgeschriebene hinaus, um möglichst bald wieder zurück zum Normalzustand zu kommen. (Ein bisschen wie im März 2020 in Deutschland?).
  • Das nennt sich „Overcompliance“. Statt Regeln bis zum Anschlag auszureizen, tun viele freiwillig mehr als gefordert – und vielleicht ist es genau das, was den Unterschied machen kann.
  • Es gibt auch Übereifer und Schuldzuweisungen (Die Piloten! Die Alten! Die traditionellen Märkte! Die Gastarbeiter) genauso wie Stimmen, die zu Bedacht aufrufen (Es war unvermeidbar / Es geht uns noch immer gut / Wir schaffen auch das).
  • Verunsicherung führt dazu, dass auch (besonders gerne von Älteren über Line) Fake News und anderer Blödsinn geteilt werden. („Zitrone im grünen Tee tötet das Virus“ ist noch harmlos.)

Wie geht es nun weiter?

  • Einige rufen nach einem „harten“ Lockdown bzw. „Stufe 4“. Es ist aber nicht nur unklar, was das genau bedeuten würde – sondern auch, ob er die Infektionen gegen Null drücken könnte.
  • Taiwans Wirtschaft ist sehr stark durch das produzierende Gewerbe geprägt. Beschäftigte dort müssten trotzem weiter zur Arbeit. (Auch in Australiens „harten Lockdowns“ wurden Fabriken m.W. nicht einfach stillgelegt.)
  • „Zero Covid“ war nie Taiwans Ziel – es wirkte nur so, als das Pandemie-System so lange dichtgehalten hatte.
  • Es scheint, dass Taiwans CDC sich teilweise an Japans Corona-Politik orientiert: Superspreading-Events und neue Cluster vermeiden, Normalität weitgehend aufrecht erhalten (Überlegungen dazu). Wie die Grafik oben zeigt, hatte Japan während der gesamten Pandemie nie eine 7-Tage-Inzidenz über 35. Das kam in der deutschen Berichterstattung auch nicht wirklich rüber.
  • Impfen, impfen, impfen.

Tja, so sieht es aus. Für mich zumindest. Auch wenn der Spaß der Corona-freien Zeit hier in Taiwan nun vorerst vorbei ist, und wir nun mit Verspätung erleben müssen, was der Rest der Welt durchgemacht hat: Wir hatten vorher fast anderthalb Jahre lang einfach eine sehr, sehr gute und fast sorgenfreie Zeit hier.

Ich zumindest bin dafür noch immer dankbar.

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

Comments

Eine Antwort

  1. cit. „Wir hatten vorher fast anderthalb Jahre lang einfach eine sehr, sehr gute und fast sorgenfreie Zeit hier.“
    Klar, dank permanenter Telefonüberwachung, Digital-Fencing, Quarantäne-Knast, usw.
    Orwells 1984 lässt grüßen. Und Taiwan in Deutschland als Vorbild zeigen. LOL
    Die Arbeiter in Miaoli zeigen, dass Taiwan es sogar noch extremer kann. Tagsüber schuften, nachts einsperren. Tolles Taiwan. Aber alles weglächeln. Und den Virus einfach wegsprühen. Zum Tot-Lachen.

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