Die zwei Gesichter des Freddy Lim
Für mich die ungewöhnlichste Geschichte dieses Wahlkampfes. Ein Rocker wird Politiker und gründet eine Partei. Er meint es völlig ernst. Und er hat Chancen.
Ein junger Mann mit wilder Mähne und martialischem Make-up steht auf der Bühne. Er trägt eine enge schwarze Lederkluft, die seine durchtrainierten Oberarme mit den Tattoos frei lässt. Er brüllt ins Mikrofon: „Ich will sehen, wie Ihr Eure verdammten Köpfe schüttelt!“
Und dann bricht die musikalische Hölle los. Treibender, kreischender Heavy-Metal-Sound, gröhlender Gesang. Die Menge vor der Bühne lässt sich mitreißen.
Ein junger Mann mit ordentlichem Pferdeschwanz läuft in einer schmucklosen Gasse von Haus zu Haus. Er trägt eine knallgelbe Jacke, auf die sein Name gedruckt ist.
Er klopft an jede Tür, geht in jeden Laden, schüttelt jede Hand. Wenn er sich den meist älteren Anwohnern vorstellt und seine Flugblätter verteilt, ist er höflich und zurückhaltend.
Taiwans größter Rockstar wechselt das Fach
Zwei Gesichter, ein Mann: Es ist Freddy Lim (林昶佐), der zur Zeit in Taiwan für viel Gesprächsstoff sorgt. Er ist Taiwans größter Rockstar, und jetzt ist er Politiker geworden.
Mit seiner Band Chthonic tourt er über Metal-Festivals weltweit, ist auch schon mehrmals in Wacken in Schleswig-Holstein aufgetreten.
Und er will sich ins Parlament wählen lassen, hat eine eigene Partei gegründet, die bei den Wahlen am 16. Januar wahrscheinlich die Fünf-Prozent-Hürde überspringen wird.
Wer ist Freddy, und was will er?
Freddy Lim im Fernsehen
Schon vor einigen Monaten habe ich mich an seine Fersen geheftet und ihn immer wieder mal mit der Kamera begleitet, für einen Fernsehbericht.
Fließender Rollenwechsel
Freddy Lim hat in der Tat zwei Gesichter, aber sie stehen nicht im Widerspruch zueinander.
In diesem Video sieht man, wie seine Rollen fließend ineinander übergehen. Ich habe es beim „Chthonic“-Konzert am 26.12.2015 auf dem „Freiheitsplatz“ in Taipeh aufgenommen.
Freddy, der Rockstar, war stets ein politisch denkender Aktivist, der sich um sein Land sorgt.
Hört man in den Songs von Chthonic genau hin, entdeckt man hinter dem Lärm Texte über Taiwans Geschichte, seine Mythen und Menschen.
Vier Jahre lang war Freddy Vorsitzender von Amnesty International Taiwan, hat sich für Menschenrechte eingesetzt, besonders in Tibet. In China hat er Auftrittsverbot.
Ist Freddy Lim schüchtern?
So sehr er auf der Bühne aus sich heraus geht, so zurückhaltend ist er im echten Leben. „Andere Rockstars machen sich immer lustig über mich“, erzählt er mir von Festivals. „Sie gehen nach der Show mit ihren Groupies feiern, aber ich sitze lieber im Hotelzimmer vor meinem Computer.“
Um seinen Wahlkreis in Taipeh zu gewinnen, muss er diese Scheu nun ablegen. Viele seine potenziellen Wähler im Bezirk Wanhua sind ältere Leute, untere Mittelschicht. Sie kennen seine Musik nicht, sie sehen nur den Kandidaten.
Freddy hat gelernt, sagt er, auf jeden Menschen zuzugehen, mit jedem zu reden. Und er hat sich angewöhnt, Anzug zu tragen.
Als Politiker wird er nun ernst genommen.
Freddys neue Partei: die NPP
Seine Partei hat er „New Power Party“ (時代力量) genannt. Die NPP zieht viele junge Taiwaner an, die von den etablierten Parteien und ihrem ständigen ideologischen Zank frustriert sind.
Mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung, mehr soziale Gerechtigkeit und weniger Abhängigkeit von China haben sie sich auf die Fahnen geschrieben.
Der Sonnenblumen-Marsch durch die Institutionen
Dies waren auch Forderungen der Studentenbewegung, die im Frühjahr 2014 in der mehrwöchigen Besetzung des Parlaments gipfelte, als die Regierung ein Freihandelsabkommen mit China im Eiltempo durchpeitschen wollte. Das hatten die „Sonnenblumen“-Aktivisten verhindert.
Nun haben sie einen Weg gefunden, ihre Ideen ins politische System einzubringen.
Laut Umfragen könnte die NPP über die Listenstimme aus dem Stand dritt- oder viertstärkste Partei in Taiwan werden und, bei einem Stimmenanteil von um die 7 Prozent, drei oder vier Abgeordnetensitze gewinnen.
Nur einer kann gewinnen
Freddy selbst kommt allerdings nur ins Parlament, wenn er seinen Wahlkreis in Taipeh (Wanhua-Zhongzheng) gegen den KMT-Kandidaten gewinnt.
Es sind spannende Zeiten. Wie immer ist die Frage: Schaut China zu, wie die Taiwaner zumindest gefühlsmäßig immer weiter auf Distanz gehen, oder mischt es sich ein?
Warten wir erst mal die Wahlen ab.
Was meinen Sie? Kann die NPP sich auf Dauer als politische Kraft in Taiwan etablieren?