Das gab es noch nie: Mehr als 30 Abgeordnete könnten vorzeitig aus Taiwans Parlament fliegen – mit potenziell weitreichenden Folgen für die Machtverhältnisse. Sind solche Kampagnen für Recalls Kampagnen undemokratisch oder ur-demokratisch? Und wie ist es überhaupt dazu gekommen? Hier die wichtigsten Antworten.
Was passiert gerade?
Seit Monaten laufen in Taiwan Abwahl-Verfahren gegen Dutzende von Abgeordneten im nationalen Parlament (Legislativ-Yuan). Es ist noch unklar, welche und wie viele am Ende erfolgreich sein werden.
Konkret von einer möglichen Abwahl betroffen sind derzeit noch 30 Abgeordnete der KMT und bis zu 15 der DPP.
Weiter unten erkläre ich die vier Phasen dieses Prozesses.
Aber damit man die Hintergründe versteht, muss ich kurz ausholen.
Was ist die Ausgangslage?
Seit den Wahlen im Januar 2024 hat Taiwan eine Minderheitsregierung. Die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) stellt den Präsidenten, der den Premierminister ernennt, der wiederum das Regierungskabinett bestimmt. Die DPP hat aber keine Mehrheit im Parlament, das die Gesetze beschließt, an die die Regierung sich halten muss.
Das Parlament hat 113 Sitze. Für die absolute Mehrheit sind 57 Sitze nötig.
Die DPP hat aber nur 51 Mandate.
Die Kuomintang (KMT) hat 52 Mandate; dazu kommen zwei parteilose Abgeordnete, die verlässlich mit der KMT stimmen.
Die Taiwan People’s Party (TPP) hat 8 Mandate. Sie könnte also als Zünglein an der Waage mal der DPP, mal der KMT zu einer Mehrheit verhelfen. Tatsächlich hat sie sich aber ganz an die Seite der KMT gestellt.

Wo ist das Problem?
Parlament und Regierung arbeiten gegeneinander, statt von Fall zu Fall pragmatisch Kompromisse zu suchen. Das schwächt Taiwans demokratisches System, gerade angesichts der immer unverhohleneren Drohungen aus China.
Aus Sicht des „grünen Lagers“ (derjenigen, die stark Taiwans eigene Identität betonen) stellt das „blaue“ Lager keine „normale“ Opposition dar, sondern eine disloyale Fundamentalopposition. Sie glauben, dass es KMT und TPP primär nicht um Taiwans Wohl und die Stärkung seiner Demokratie geht, sondern um die Schwächung der Regierung zum Zweck des eigenen Machtgewinns – auch auf Kosten von Taiwans Widerstandskraft gegen die chinesische Bedrohung.
Viele „dunkelgrüne“ Taiwaner unterstellen der Opposition sogar, bewusst Chinas Werk zu verrichten.

Woher kommt dieses Misstrauen?
Seit der Konstituierung des aktuellen Parlaments Anfang 2024 hat eine Reihe von Streitthemen den politischen Diskurs aufgewühlt.
Dazu muss man wissen, dass Taiwans Exekutive, also der Präsident und der Premierminister mit dem Kabinett (Exekutiv-Yuan), keine effektive Veto-Macht gegen vom Parlament beschlossene Gesetze haben. Im Streitfall muss normalerweise am Ende das Verfassungsgericht entscheiden.
Dies sind nur einige der wichtigsten Ereignisse:
April 2024: KMT-Fraktionschef Fu Kun-chi reist mit fast 20 Abgeordneten seiner Partei nach China. Sie treffen den Leiter des „Büros für Taiwanangelegenheiten“ Song Tao und Xi Jinpings Taiwanbeauftragten Wang Huning, ein mächtiges Mitglied im Ständigen Ausschuss des KP-Politbüros. (So hat Chinas Propaganda darüber berichtet.)
Mai 2024: KMT und TPP beschließen kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Lai Ching-te erweiterte Kontroll- und Untersuchungsbefugnisse des Parlaments gegen Regierung, Beamte und Bürger. Es kommt zum Bluebird Movement, einer Protestbewegung. Ich habe hier im Blog darüber berichtet.

Oktober 2024: Das Verfassungsgericht erklärt die erweiterten Kontrollbefugnisse des Parlaments für unzulässig.
Dezember 2024: KMT und TPP beschließen ein Gesetz, mit dem sie das Verfassungsgericht de facto lahmlegen. Der Senat ist nur noch beschlussfähig, wenn mindestens zehn der 15 Richter anwesend sind. Aktuell sind aber nur noch acht Plätze besetzt. Kurz darauf lehnt das Parlament alle sieben Kandidaten für eine Neubesetzung ab. Seitdem ist das Verfassungsgericht nicht mehr beschlussfähig.
Januar 2025: KMT und TPP streichen den Regierungshaushalt zusammen. Viele der Posten, die gekürzt oder teilweise eingefroren werden, betreffen Taiwans Verteidigungshaushalt.
Januar 2025: KMT und TPP beschließen, dass ein großer Teil der Steuereinnahmen künftig direkt an die Regionalverwaltungen statt an die Zentralregierung gehen soll.

Wie kam es zu den Abwahlverfahren?
Im Januar 2025 begannen Gruppen aus der Zivilgesellschaft mit Unterschriftensammlungen für Abwahl-Kampagnen gegen KMT-Abgeordnete. Diese Kampagnen wurden nicht von der DPP organisiert und vorangetrieben (auch wenn der DPP-Fraktionschef sie früh begrüßte), sondern von verschiedenen Graswurzel-Bewegungen und Einzelpersonen wie Robert Tsao, einem Tech-Milliardär im Ruhestand, der seit einigen Jahren mit seinem Vermögen Initiativen wie die Kuma Academy unterstützt.
Das Fernziel war von Anfang an, auf diesem Weg die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu ändern.
Nachdem klar war, dass die Initiatoren gegen die KMT-Abgeordneten es ernst meinen, starteten KMT-Kreise als Reaktion darauf eigene Verfahren gegen DPP-Abgeordnete – nach dem Motto „das können wir auch“.

Ist so eine Abwahl demokratisch?
Eine Abwahl (recall) von Abgeordneten ist in Taiwan eine gesetzlich/demokratisch vorgesehene Möglichkeit, von der allerdings bislang immer punktuell und nie so geballt Gebrauch gemacht wurde.
Es ist ein gesetzlich so vorgesehenes Element der direkten Demokratie, auch wenn es in Deutschland ungewöhnlich erscheinen mag. Vergleichbare Regelungen gibt es in einer Reihe von Ländern.
Ich vermute, die Logik dahinter ist: „Wenn ein demokratisch gewählter Amtsträger die in ihn gesetzten Erwartungen krass enttäuscht, sollen seine Wähler auch eine Möglichkeit haben, ihn demokratisch vorzeitig auszuwechseln.“
Gab es das in Taiwan schon einmal?
2021 wurde per recall erstmals ein Abgeordneter des nationalen Parlaments abgewählt, ein Politiker einer „dunkelgrünen“ Kleinpartei aus Taichung.
Damals war die KMT in der Minderheit und strengte mehrere solche Verfahren an, z.B. auch (erfolglos) gegen Freddy Lim aus dem Wahlkreis Taipeh-Wanhua.
Schon 2017 war der heutige Taiwan People’s Party (TPP)-Chef Huang Kuo-chang ein Ziel einer Abwahlkampagne, als er noch im „grünen Lager“ bei der New Power Party (NPP) war.

Wie funktioniert so eine Abwahl genau?
Die Hürden sind sehr hoch, das gesamte Verfahren langwierig. Es gibt vier wichtige Phasen:
1. Die Initiatoren müssen Unterschriften von 1 Prozent der im Wahlkreis Wahlberechtigten als Unterstützer sammeln. Das übernehmen Freiwillige, die sich dazu im ganzen Land in Gruppen koordinieren.
Nur Abgeordnete, die einen Wahlkreis oder die indigene Bevölkerung vertreten, können abgewählt werden – nicht diejenigen, die über die Parteiliste ins Parlament einzogen (das betrifft u.a. alle TPP-Abgeordneten.) Potenziell gefährdet waren im aktuellen Legislativ-Yuan 38 DPP- und 39 KMT-Wahlkreisabgeordnete (plus die zwei Parteilosen).
2. Falls die zuständige Wahlkommission Unterschriften von mehr als 1 Prozent der Wahlberechtigten als gültig anerkennt, müssen die Initiatoren nun 10 Prozent sammeln. In dieser Phase hat die DPP sich deutlicher hinter die Kampagnen gestellt und den Organisation bei der Stimmensammlung geholfen.
Diese Phase ist gerade im Mai 2025 gegen 30 KMT-Abgeordnete erfolgreich abgeschlossen worden. Die Zeit für die Unterschriftensammlungen gegen DPP-Abgeordnete ist noch nicht überall vorbei.
3. Falls auch das klappt, gibt es in jedem betroffenen Wahlkreis eine Abstimmung ähnlich einer Volksabstimmung. Dabei müssen mehr Stimmen für als gegen die Abwahl abgegeben werden (logisch), und die Stimmen dafür müssen mehr als 25 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen. (Diese Regel soll auch Gegner der Abwahl motivieren, in großer Zahl abzustimmen, statt nur auf ein Scheitern am Quorum zu setzen.)
Zu diesen Abstimmungen wird es im Sommer kommen.
4. Falls ein Abgeordneter abgewählt wird, gibt es eine Nachwahl in seinem Wahlkreis, bei der er nicht wieder antreten darf – aber ein anderer Kandidat aus seiner Partei, der dann auch gewählt werden kann.
Wer diese Wahl gewinnt, vertritt den Wahlkreis bis zum Ende der Legislaturperiode.
Wer in Phase 3 abgewählt wurde, darf dann bei der nächsten regulären Parlamentswahl 2028 nicht wieder im gleichen Wahlkreis antreten.

Was für Probleme sind aufgetaucht?
Die Wahlkommissionen, die die Unterschriftenlisten ziemlich genau prüfen, haben bei den Anti-DPP-Initiativen deutlich mehr offensichtlich gefälschte Unterschriften festgestellt als auf der anderen Seite, sowohl relativ als auch in absoluten Zahlen. (Klassischer Fall: „Unterschriften“ längst verstorbener ehemaliger Parteimitglieder.)
Die Unterschriften zu fälschen ist strafbar. Die Strafen hatte die KMT selbst im Dezember 2024 noch verschärft.
Es laufen Ermittlungsverfahren gegen mehrere KMT-Unterstützer und -Mitglieder, einige mussten in Untersuchungshaft. Das betraf sogar Regional-Parteichefs, z.B. aus Taipeh und Keelung). In Keelung wurde auch ein Beamter entlassen und inhaftiert (der Sohn eines früheren Bürgermeisters), der zur „Unterstützung“ des Abwahlverfahrens unerlaubt Meldedaten abgerufen hatte.
Diese Ermittlungen und Festnahmen sind einige der Begründungen, die derzeit KMT-Parteispitzen immer wieder heranziehen, um der DPP und Präsident Lai „Diktatur“ und „grünen Terror“ vorzuwerfen. Das geht bis zu Nazi-Vergleichen. Diese fragwürdige Strategie hier zu analysieren, würde zu weit führen. Nur zur Erinnerung: Die einzige Partei, die Taiwan nach 1945 diktatorisch regiert hat, und unter der man aufpassen musste, wie man sich politisch äußert, war die KMT.

Wird die Mehrheit von KMT und TPP im Parlament kippen?
Das ist die große Frage. Denn falls dies nicht gelingt, wären die Abwahl-Kampagnen nach gut einem Jahr am Ende mit ihrem enscheidenden Ziel gescheitert.
Unterm Strich müsste die DPP in der Nachwahl-Phase 4 (s.o.) sechs Wahlkreise mehr für sich gewinnen als sie derzeit hat. Noch ist völlig offen, in wie vielen der noch 30 angegriffenen KMT-Wahlkreise die Abstimmungen (Phase 3) erfolgreich sein werden. Selbst dann könnten die Wähler in verlässlich „blauen“ Wahlkreisen einfach einen anderen KMT-Kandidaten wählen (zumindest wären dann einige der besonders polarisierenden Figuren nicht mehr im Parlament, ein kleiner Trost für ihre Gegner).
Und schließlich könnten auf der anderen Seite auch einige der Anti-DPP-Kampagnen erfolgreich sein.
Viele Hintergründe und auch Einschätzungen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ist, dass die Oppositionsmehrheit im Parlament am Ende kippen wird, stehen hier im Blog eines Politikwissenschaftlers.
Was ist noch unklar? Schreibt es mir in die Kommentare.
3 Antworten
Schön, dass mal jemand die Situation für Leute erklärt, die das Konzept „recall“ nicht kennen.
Danke für diesen Beitrag, sehr informativ.
Das ist meiner Meinung nach sehr schade was innenpolitisch zur Zeit in Taiwan läuft. Das Land ist existenziell durch China bedroht und die Parteipolitiker beschäftigen sich mit Machtspielen. Das sich dann noch die reaktionäre KMT als Verfechter der Demokratie hochspielt und die Regierungspartei DPP als Nazis darstellt – unglaublich.
In Deutschland würde ein dauerhaftes ‚Patt‘ im Parlament evtl. zum
konstruktives Misstrauensvotum führen. Gibt’s das in Taiwan und wäre das in dem Fall nicht die einfachere Lösung?
Neuwahlen der Parlaments sind eine interessante Frage. Sowohl die DPP als auch die KMT nehmen ja in Anspruch, die aktuelle Mehrheitsmeinung zu vertreten. In Neuwahlen könnte man also einen sauberen Weg sehen, in einer verfahrenen Situation klare Verhältnisse zu schaffen. (Außerdem wären dann künftig Präsidenten- und Parlamentswahlen nicht mehr alle vier Jahre immer zeitgleich, was ich gut fände.)
Der Weg dahin müsste über ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister laufen (kein „konstruktives“, denn es würde nicht zugeich ein neuer gewählt). Ein Drittel der Abgeordneten kann das beantragen. Wenn dann eine Mehrheit das Misstrauen ausspricht, kann der Premier den Präsidenten auffordern, das Parlament aufzulösen, und es würde neu gewählt. https://news.tvbs.com.tw/english/2844160?from=english_extend
Taipehs Bürgermeister Chiang Wan-an von der KMT hatte das Mitte April sogar gefordert, wurde aber parteiintern zurückgepfiffen.
Warum geht die KMT diesen Weg nicht? 1) Es ist nicht sicher, dass sie wirklich die Neuwahl gewinnen würden. 2) Sie versuchen derzeit, mit Geschenken an die Wähler (Feiertage, Cash-Handouts) gute Stimmung für die Recalls zu machen und scheinen sich darauf eingeschossen zu haben. 3) Die TPP würde bei Neuwahlen wohl stark verlieren, vielleicht ganz aus dem Parlament ausscheiden. Deren Stimmen bräuchte die KMT aber, um eine Mehrheit beim Misstrauenvotum zu haben. Es sei denn, DPP-Abgeordnete stimmen mit gegen ihren eigenen Premier.
Das führt zur Frage: Warum führt die DPP nicht gemeinsam mit der KMT Neuwahlen herbei? 1) Es ist nicht sicher, dass die DPP Neuwahlen gewinnen würde. 2) Es könnte schwer zu vermitteln sein, den eigenen Premier abzusägen. 3) Sie hoffen, über die Recalls die Mehrheitsverhältnisse ändern zu können.