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Was soll die Gewalt in Taiwans Parlament?

Zeitungsausschnitt mit einem großen Foto der Rangeleien in Taiwans Parlament. Ein Abgeordneter stürzt kopfüber vom Podium.

Es ist mal wieder Shitshow-Zeit im Parlament von Taiwan. Alle paar Jahre machen die Abgeordneten sich mit Rangeleien vor laufenden Kameras zum Gespött der Welt. Aber diesmal – nur drei Tage vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten – war der Hintergrund ernster, und es gab Verletzte. Grund genug, genauer hinzuschauen.

Was ist passiert?

Taiwans Parlament (der Legislativ-Yuan) war am Freitag (17. Mai 2024) den ganzen Tag Schauplatz von Tumulten und Handgreiflichkeiten. Die Abgeordneten der DPP wollten verhindern, dass die Parlamentsmehrheit (KMT, TPP und einige Parteilose) bestimmte, besonders kontroverse Gesetze beschließt.

Zwischenzeitlich riss sich ein DPP-Abgeordneter Papiere unter den Nagel und türmte aus dem Saal.

Die Situation eskalierte gegen 19 Uhr, als einige DPP-Abgeordnete den Platz des Parlamentspräsidenten besetzen wollten. Negativer Höhepunkt war der dramatische Sturz des DPP-Abgeordneten Puma Shen kopfüber vom Podium. Er war von hinten auf eine Menge von KMT-Abgeordneten geklettert, die ihn daraufhin über ihre Köpfe hinweg nach vorn und dann nach unten beförderten.

Diese Szene lässt sich nur schwer beschrieben. Man sollte sie als Video gesehen haben, da sie wohl in Taiwans kollektives Gedächtnis eingehen wird.

Ich finde es nicht nachvollziehbar, wie Shen da über die Körper seiner Parlamentskollegen klettert. Sondern fahrlässig. Ich kann nachvollziehen, dass man die Last dieses großgewachsenen Mannes von sich loswerden will. Aber das „schmeißt ihn da runter“-Deuten der KMT-Abgeordneten lässt sich nicht rechtfertigen. Da müssen in der Hitze des Moments mehrere Sicherungen ausgeklinkt sein. Zwar glaube ich ich nicht, dass sie vorhatten, ihn kopfüber herabzustürzen. Aber so kam es dann. Und dabei hätte er sich buchstäblich den Hals brechen können.

Sein Sturz ging glimpflich aus. Shen musste verletzt ins Krankenhaus gebracht werden, ebenso wie vier weitere DPP- und ein KMT-Abgeordneter.

Am Abend versammelten sich dann mehrere Hundert Demonstranten vor dem Parlament, um die DPP zu unterstützen.

Nach Mitternacht brach Parlamentspräsident Han Kuo-yu (KMT) die Sitzung ab. Sie soll am Dienstag (21. Mai), fortgesetzt werden – dem Tag nach der Vereidigung des neuen Präsidenten Lai Ching-te.

Warum macht die DPP das?

Die DPP ist zwar Taiwans Regierungspartei. Sie stellt den Präsidenten, und dieser bestimmt den Premierminister. Doch im Parlament hat die DPP seit der Wahl im Januar nur noch 51 der 113 Sitze. Die Opposition kann also Gesetze gegen die Regierung beschließen, und auch der Präsident kann gegen sie kein bindendes Veto einlegen.

Am Freitag wollte die KMT vor allem zwei Anliegen durchs Parlament bringen:

Der Präsident soll verpflichtet werden, im Parlament eine jährliche Rede an die Nation zu halten und im Anschluss Fragen der Abgeordneten zu beantworten.

Das Parlament soll das Recht bekommen, in Untersuchungsausschüssen Zeugen vorzuladen, Aussagen und Einsicht in Dokumente zu verlangen. Wer dabei „das Parlament missachtet“, soll sich künftig strafbar machen. Das könnte auch Regierungsbeamte betreffen.

Wo soll das Problem sein?

Zum einen sehen die DPP (und andere kritische Stimmen) eine Gefahr, dass das Parlament sich Rechte gibt, die ihm nicht zustehen.

Dabei geht es um verfassungsrechtliche Fragen. Die Rechte der Exekutive könnten der Legislative gegenüber unzulässig beschnitten werden, so die Argumentation.

Außerdem gibt es in Taiwan mit dem Kontroll-Yuan ein weiteres unabhängiges Verfassungsorgan, dessen Aufgabe das Untersuchen und Sanktionieren von Missständen ist. Das Parlament dürfe sich nicht dessen Kompetenzen aneignen.

Zum anderen richtet die Kritik sich dagegen, die Opposition wolle ihre Mehrheit nutzen, um diese Vorhaben unter Missachtung der parlamentarischen Regeln durchzusetzen. Es habe nicht den üblichen Konsultationsprozess zwischen den Fraktionen gegeben, der ganze Gesetzestext sei auch nicht wie üblich vorab publiziert und zur Diskussion gestellt worden. Es mangele an Transparenz und demokratischem Fair Play.

Es soll verhindert werden, dass so ein Vorgehen zum Präzedenzfall und damit normalisiert wird. Außerdem werden Erinnerungen an die Sonnenblumen-Bewegung 2014 wach. Unmittelbarer Auslöser der Parlamentsbesetzung damals waren der Versuch, ein Freihandelsabkommen mit China im Schnellverfahren durchs Parlament zu peitschen.

Sind solche Aktionen in Taiwan normal?

Wer das Rednerpult besetzen und so Lesungen und Abstimmungen verhindern will, blockiert natürlich die Arbeit des demokratisch gewählten Parlaments. Das ist auf jeden Fall problematisch.

Zugleich sind solche Methoden unter den spezifischen Bedingungen von Taiwans Demokratie durchaus gängig geworden, und sie werden von der Bevölkerung (mehr oder weniger kopfschüttelnd) toleriert – als Methode der Minderheit, bei besonders kontroversen Fragen die Entschlossenheit der Parlamentsmehrheit und die öffentliche Meinung zu testen.

Natürlich geht es dabei auch darum, den eigenen Anhängern Entschlossenheit zu demonstrieren, nach dem Motto „Wie ihr seht, haben wir wirklich alles dagegen getan.“ Bei den Rangeleien in Taiwans Parlament ist also immer auch viel Show für die Galerie dabei. Konsens ist dabei eigentlich auch, dass es zu keinen ernsthaften Verletzungen kommen soll.

Die DPP begann mit dieser Taktik in der Frühphase von Taiwans Demokratie in den 1990ern. Damals wurde sie als Opposition tatsächlich noch systematisch benachteiligt. Die Absicht war, quasi per Notwehr auf Ungerechtigkeiten im System aufmerksam zu machen.

Noch Jahre später verteidigte während ihrer Zeit als Oppositionsführerin vor 2016 auch Taiwans mitterweile scheidende Präsidentin Tsai Ing-wen solche Taktiken. (Leider finde ich den Bericht mit ihrem entsprechenden Zitat gerade nicht mehr, habe ihn aber noch genau vor Augen.)

Für die KMT, die bis 2016 stets die absolute Mehrheit im Parlament hatte, waren solche Zwischenfälle natürlich eine Steilvorlage, die DPP als „Partei der Gewalt“ zu kritisieren.

Als die KMT dann selbst in der Minderheit war (2016 bis Anfang 2024), griff auch sie gelegentlich zu „handfesten Methoden“, um im Parlament zu protestieren. 2020 warfen KMT-Abgeordnete mit Schweine-Innereien, als um die Frage amerikanischer Fleischimporte gestritten wurde.

Was ist die größere Gefahr?

Die Opposition will ihre Mehrheit im Parlament nutzen, um die Regierung vor sich herzutreiben, sie schlecht darstehen zu lassen und eigene Projekte durchzusetzen. So weit, so normal in einer Demokratie.

Nun ist Taiwans Demokratie auch nach etwa 30 Jahren noch „jung“ und nicht ganz gefestigt. Die politischen Lager stehen sich grundsätzlich misstrauisch gegenüber. Und vor allem hat diese Demokratie es mit einem externen Gegner zu tun, der sie vernichten will und gegen den es zu selten gemeinsames Vorgehen gibt.

China hat das verstanden und versucht, Taiwans innenpolitische Spaltungen weiter voranzutreiben. Dabei ist die KMT ihr natürlicher Verbündeter, denn sie hängt wie Chinas KP einem (wenn auch anders gelagerten) „Ein-China-Prinzip“ an.

Seit der Wahl im Januar 2024 haben sich einige Gewichte verschoben. Präsident Lai Ching-te wurde mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewählt, was als geschwächtes Mandat gilt. Seine DPP hat die Mehrheit im Parlament verloren. Und in der KMT-Fraktion dominieren zwei Männer, die andere Charaktere sind als der ewig blasse Parteichef Eric Chu oder der joviale gescheiterte Präsidentschaftskandidat Hou Yu-ih:

Parlamentspräsident ist Han Kuo-yu, der zwischen 2018 und 2020 auf einer populistischen Welle surfte, der DPP das Bürgermeisteramt von Kaohsiung entriss und es bis zum Präsidentschaftskandidaten brachte. Nach seiner krachenden Niederlage gegen Tsai 2020 und seiner vorzeitigen Abwahl in Kaohsiung schien er alles verloren zu haben – doch als er die KMT ihn auf Platz 1 ihrer Liste setzte, war klar, dass er noch immer eine große Machtbasis in der Partei hat.

Fraktionschef und neuer starker Mann der KMT ist Fu Kun-chi, bekannt als „König von Hualien“. Vom 2009 bis 2018 war er Landrat (quasi Ministerpräsident) der bevölkerungsarmen, aber extrem großen Region an Taiwans Ostküste. Dort machte er sich einen Namen damit, nach Gutsherrenart zu regieren und Pfründe zu verteilen. Verschiedene Kontroversen kamen auf, wegen mehrerer Vergehen wurde er zu Haftstrafen verurteilt und saß monatelang im Gefängnis.

Han und Fu haben vergleichsweise wenig Berührungsängste zu chinesischen Offiziellen. 2019 traf Han in Hongkong einen chinesischen Spitzenbeamten. Als Fraktionschef flog Fu erst Ende April mit 16 weiteren KMT-Abgeordneten nach Peking. Dort traf die Gruppe Wang Huning, der im KP-Politbüro für Taiwanfragen zuständig ist, sowie den Leiter von Chinas Behörde für Taiwanangelegenheiten.

Ich erwähne das, um deutlich zu machen: Wenige Tage vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten ist die politische Stimmung in Taiwan sehr angespannt, und die beiden Seiten beobachten sich extrem misstrauisch.

Wie werden die Vorfälle nun interpretiert?

Wenig überraschend: Es ist kontrovers. Hier einige Beispiele für die Spins aus den unterschiedlichen Lagern:

„Bewusster Angriff, KMT-Abgeordnete sollten verhaftet werden.“ „Mordkomplott“ (Titel im Video)

„Die DPP will sich ihre Macht nicht nehmen lassen.“ (Link)

„Die KMT-Abgeordneten handelten auf Anweisung aus China.“ (Link)

„Die DPP flüchtet sich in Proteste, wenn ihr nichts anderes mehr bleibt.“ (Link)

Der Rugby-Tackling-Vorwurf bezieht sich auf diese Szene vom Freitag:

Der DPP-Abgeordnete sagte dazu, er sei auf Papier weggerutscht und habe sich nur im Sturz an der nächstbesten Person festhalten wollen. Es sei nicht seine Absicht gewesen, die KMT-Abgeordnete umzureißen, und es tue ihm leid.

Warum ist das alles schlecht für Taiwan?

Egal, welche Seite mehr Verantwortung an der Eskalation trägt – Taiwans Demokratie gibt mit solchen Szenen in den Augen der Welt ein ganz schlechtes Bild ab. Niemand kann genug erklären und relativieren, um den verheerenden Eindruck solcher Bilder wieder wettzumachen.

Und natürlich ist das hervorragende Propagandamunition für China: So sieht also diese gepriesene Demokratie aus?!

Und das alles wenige Tage, bevor die Welt auf Taipeh blickt und Taiwan eine würdige Amtsübergabe feiern will.

Der britische Taiwanforscher Gary Rawnsley bringt es gut auf den Punkt und spricht von „Unreife“ in unsicheren Zeiten:

Was ist mit den Protesten vor dem Parlament?

Interessant ist, dass es noch spät am selben Abend zu den Protesten vor dem Parlament kam. Seit der Sonnenblumenbewegung 2014 hat es nicht mehr viele vergleichbare spontane Aktionen gegeben. Brian Hioe teilt dazu wichtige Beobachtungen in diesem Thread auf X sowie in seinem Text bei New Bloom.

Liegt wieder ein Hauch von Sonnenblumen in der Luft, hat die KMT ihre Karten überreizt und wird von der Zivilgesellschaft zurechtgewiesen? Oder muss die DPP sich schlicht daran gewöhnen, dass sie nun mal keine Mehrheit mehr hat und dass die Mehrheit nicht immer Rücksicht auf die Interessen auch großer Minderheiten (46 Prozent, 52 von 113 Parlamentssitzen) nimmt?

Am Dienstag, am Tag nach der Vereidigung von Lai Ching-te, soll das Parlament wieder zusammenkommen. Ob man es „beraten“ nennen kann, bleibt abzuwarten.

Für den gleichen Tag werden draußen wieder Proteste erwartet.

Wir leben in spannenden Zeiten.

Einen hervorragenden Bericht über den gestrigen Tag schrieb Spiegel-Redakteur Cornelius Dieckmann, der für die Amtseinführung gerade in Taipeh ist, noch in der Nacht. Hier steht er hinter der Paywall.

Ein Zitat daraus: „Würde es einen Modus vivendi geben, gerade angesichts der großen gemeinsamen Herausforderung: der Bedrohung durch die Volksrepublik, die den Anschluss Taiwans fordert? Seit diesem Freitag scheint das unwahrscheinlicher.“

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

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