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Wogegen protestieren die Demonstranten in Taiwan eigentlich?

Eine Menschenmenge von Demonstranten auf einer Straße in Taipeh

Was waren das gerade für Tage in Taiwan! Prügel im Parlament, ein neuer Präsident, chinesische Manöver und dann auch noch Zehntausende, die direkt vor dem Parlament demonstrieren – gleich drei Mal! Ihre Wut richtete sich gegen neue Gesetze.

Aber was genau steht da drin? Wie geht es jetzt weiter? Und warum ist ein blauer Vogel zum Symbol dieser Bewegung geworden? Schauen wir mal genauer hin.

Wieso steht das Parlament überhaupt gegen die Regierung?

In Taiwan hat die Regierung seit den Wahlen im Januar 2024 keine Mehrheit mehr im Parlament. Das ist möglich, weil der Premierminister nicht (wie etwa in Frankreich) von Parlament gewählt oder bestätigt werden muss. Er wird vielmehr (wie einst in der Weimarer Republik) vom Präsidenten ernannt. Und das ist seit 20. Mai Lai Ching-te von der DPP. Vorher war es Tsai Ing-wen, ebenfalls DPP.

Die Mehrheit im 113-sitzigen Parlament (Legislativ-Yuan) hat also die vereinte Opposition: KMT (52 Sitze), TPP (8), dazu zwei zur KMT tendierende Unabhängige. Die Regierungspartei DPP hat 51 Sitze – sechs zu wenig für eine Mehrheit.

Ja, es war abzusehen, dass diese Konstellation Probleme bereiten wird. Und so kam es dann auch.

Was ist wann passiert?

17.5. (Fr): Ausschreitungen im Parlament, als DPP-Abgeordnete aus Protest gegen die Vorhaben sowie das Vorgehen der Mehrheit die Sitzung blockieren wollen. Bilder der Auseinandersetzungen werfen weltweit ein schlechtes Bild auf Taiwans Demokratie. Ein DPP-Abgeordneter wird kopfüber vom Podium geworfen. Hier mein Blogeintrag dazu. Am Abend versammeln sich Demonstranten vor dem Parlament und kritisieren KMT und TPP. Noch sind es nur wenige.

20.5. (Mo): Feierliche Amtseinführung von Lai Ching-te. Ich sitze in Reihe 10 vor dem Präsidentenpalast (mein Bericht bei ntv.de).

Der neue Präsident wendet sich gleich zu Beginn seiner Antrittsrede an die Parlamentarier:

„Der Legislativ-Yuan sollte die Verfahrensgerechtigkeit wahren. Die Mehrheit sollte die Minderheit respektieren, während die Minderheit die Entscheidungen der Mehrheit [majority rule] akzeptieren. Nur so können wir Konflikte vermeiden und eine stabile und harmonische Gesellschaft aufrechterhalten.“

21.5. (Di): Das Parlament setzt unter unübersichtlichen und teils chaotischen Umständen die Beratungen fort. Draußen wurde eine Demonstration in der Qingdao Rd. angemeldet, einer Seitenstraße direkt am Parlament. Trotz Regens versammeln sich hier und auf der Hauptstraße Zhongshan Rd. bis zum Abend Zehntausende zum Protest. Spiegel Online berichtet mit einem Video von diesem Tag.

Der Protest auf der Qingdao East Road direkt neben dem Parlament

Am selben Tag geben drei deutsche Bundestagsabgeordnete eine Pressekonferenz im Deutschen Institut in Taipeh.

23.5. (Do): China verkündet den Beginn zweitägiger Militärübungen rund um Taiwan und tut so, als liege dies an bestimmten Formulierungen in Lais Rede und sei nicht längst geplant gewesen.

24.5. (Fr): Weitere Lesungen und Beratungen im Parlament. Die Proteste rund ums Parlament weiten sich aus. Auch die Jinan Rd. auf der anderen Seite des Komplexes ist für eine Bühne gesperrt.

Die Veranstalter sprechen am Abend von 100.000 Teilnehmern. (Die Zahl mag hoch angesetzt sein, viele Zehntausend waren es m.E. auf jeden Fall.) Mehr taiwanische Medien sind vor Ort als noch am Dienstag.

Demonstranten auf der Jinan Rd.

Die KMT hatte einen Gegenprotest angemeldet, doch niemand taucht auf dem schon abgesperrten und mit Bildschirmen versehenen Gelände auf. Merkwürdig.

Niemand da bei der KMT

28.5. (Di.): Dritte Lesung, das Parlament verabschiedet die Gesetzesvorhaben. Trotz Wochentag und Regens versammeln sich wieder Zehntausende Demonstranten rund ums Parlament, die auch ausharren, als der Erfolg der Abstimmung schon feststeht.

Was waren das für Demonstrationen?

Ich war am 21., 24. und 28. Mai vor Ort, um mir die Proteste anzusehen. Hier einige Eindrücke:

Es waren sehr viele junge Leute dabei: Unter 30-Jährige, die 2014 wohl noch zu jung waren, um an der Sonnenblumenbewegung teilzunehmen. Sogar Schülerinnen und Schüler von High Schools gaben sich zu erkennen, die noch gar nicht wählen dürfen und in Taiwans Gesellschaft oft als unreife Kinder abgestempelt werden.

Organisatoren waren viele NGOs, die gemeinsame Sorgen und Ziele einten. Es waren keine DPP-Parteiveranstaltungen.

Die Besetzung des Parlaments durch die Sonnenblumen-Bewegung 2014 hatte ich leider nicht vor Ort erlebt, weil ich da gerade in Deutschland war. Aber ungefähr so muss die Atmosphäre damals auch gewesen sein.

Trotz der Menschenmassen ging es friedlich und nicht aggressiv zu. Die Stimmung würde ich als konzentriert, engagiert und heiter beschreiben. Das Drumherum mit Erste-Hilfe-Zelten, Technik, Verpflegung und Crowd Control war exzellent organisiert. Bottom Line: Seid misstrauisch, wenn jemand die Demonstranten als „Mob“ bezeichnet.

Neben den Reden und Sprechchören drückten die Demonstranten ihre Forderungen vor allem durch Protestschilder aus, die sie, oft selbst gestaltet, individuell hochhielten. Memes waren als Form besonders beliebt – da wurde quasi ein Stück Internetkultur in die analoge Protestwelt übernommen.

Wo soll das Problem sein?

Im Kern geht es KMT und TPP darum, dem Parlament mehr Befugnisse zu geben – auch gegen die Regierung. Sie wollten „die Regierung an die kurze Leine nehmen“, drückte es der für Taiwan zuständige ARD-Korrespondent in Tokio in den Tagesthemen aus. Eine ganz treffende Formulierung, finde ich.

Wieso stemmen sich nun die DPP, vor allem aber so viele Mitglieder der Zivilgesellschaft, gegen die Gesetzespläne? Das hat zu tun mit dem Inhalt der Gesetze, mit der Art und Weise, wie sie verabschiedet wurden, und mit den verborgenen Motiven, die sie vor allem der KMT unterstellen.

Der Inhalt: Was soll passieren?

Zum einen will das Parlament den Präsidenten verpflichten, einmal jährlich dort eine Rede an die Nation zu halten. Und: Er soll sich im Anschluss unabgesprochenen Fragen der Abgeordneten stellen müssen, statt nur vorbereitete Statements vorzutragen. Die Oppositionsparteien schaffen sich also eine Möglichkeit, das Staatsoberhaupt auf offener Bühne in die Mangel zu nehmen.

Kritiker sehen hier grundlegende verfassungsrechtliche Probleme. Der Präsident sei direkt von der Bevölkerung gewählt, die Legislative habe kein Recht, ihn zu etwas zu zwingen.

Übersicht der Agentur CNA.

Zum anderen, und dies ist das kontroversere Vorhaben: Das Parlament gibt sich die Macht, zu beliebigen Themen selbst Untersuchungen durchzuführen. Dazu können Beamte, Regierungsmitglieder, Militärs und normale Bürger vorgeladen werden.

Wer nach Meinung der Abgeordneten nicht zufriedenstellend antwortet oder ihnen Informationen vorenthält, gegen den können sie wiederholt Geldbußen verhängen. Beamte könnten für Falschaussagen sogar strafrechtlich belangt werden, denn der neue Straftatbestand „Missachtung des Parlaments“ soll ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Haftstrafen sollen möglich sein. Über möglicherweise strafbares Verhalten würden Gerichte in Prozessen entscheiden.

„Ich missachte das Parlament“ war einer der häufigeren Slogans, die man bei den Demonstranten lesen konnte.

„Ich bin High-School-Schülerin. Ich missachte das Parlament.“

Für die Kritiker machen diese neuen Befugnisse die Abgeordneten zu Anklägern und Richtern in Personalunion. Die Mehrheit könne jeden abstrafen, der ihr nicht passt, und könnte dafür leicht Vorwände finden.

Außerdem seien die neuen Befugnisse zu breit angelegt. Regierungsmitglieder könnten gezwungen werden, Staatsgeheimnisse preiszugeben (auch militärische, die dann an China verraten werden könnten); Journalisten ihre Quellen. Vielen stößt auf, dass Vorgeladene nur einen Rechtsbeistand dabei haben dürfen, wenn der Ausschussvorsitz das genehmigt.

Übersicht der Agentur CNA

Auch hier gibt es verfassungsrechtliche Bedenken: In Taiwan gibt es außer Legislative, Exekutive und Judikative als Verfassungsgewalt noch den Kontroll-Yuan. Diese (übrigens direkt neben dem Legislativ-Yuan untergebrachte) Institution kann bereits Fehlverhalten von Staatsdienern untersuchen und ahnden. Es könnte also Kompetenzüberschneidungen geben. Am 28.5. kritisierte der von der DPP-Politikerin Chen Chu geleitete Kontroll-Yuan die gerade verabschiedeten Gesetze. KMT und TPP reagierten mit Forderungen, den Kontroll-Yuan abzuschaffen, was auch die DPP schon mal befürwortet hatte.

Die Art des Vorgehens: Warum die Eile?

„Keine Debatte, keine Demokratie!“ Das war einer der beliebtesten Vorwürfe der Demonstranten vor dem Parlament.

Im Grund war jedem – und der DPP, die ja vor kurzem noch selbst die Mehrheit hatte, ganz bestimmt – klar, dass KMT und TPP mit ihrer Parlamentsmehrheit ihre Gesetzentwürfe am Ende so oder so durchbringen konnten. Hätte die Opposition sich etwas mehr Zeit genommen und alles debattiert, Änderungsanträge der DPP-Minderheit angehört (und dann abgelehnt), jede Lesung der Gesetzesvorschläge in Ruhe durchgezogen und vielleicht an einigen weniger wesentlichen Stellen Kompromissbereitschaft gezeigt, hätte es vermutlich auch keinen so großen Aufstand gegeben.

„Ich vertraue Xi Jinping nicht.“

Aber so kam es nicht. Die Versuche der DPP, am 17.5. die Sitzung zu blockieren, spielten sich nach einem im Grund überparteilich akzeptierten Drehbuch ab, wenn Taiwans Parlamentsminderheit auf vermeintlich ungerechte Behandlung aufmerksam machen will. Im Grunde ist es politisches Schauspiel, um seine eigene Entschlossenheit zu demonstrieren und die der Gegenseite zu testen. Die DPP entwickelte diese Strategie in den 1990er Jahren, die KMT übernahm sie später bei Gelegenheit. Der Academia-Sinica-Politikforscher Nathan Batto hat sie 2020 vortrefflich in seinem Blog Frozen Garlic analysiert:

„Vor allem müssen wir verstehen, dass körperliche Auseinandersetzungen nach über 30 Jahren Streitigkeiten im Parlament von allen Akteuren als ein „normaler“ Teil des legislativen Prozesses angesehen werden. Es gibt informelle Regeln, was erlaubt ist und was nicht. Dass es zu Schubsereien und Drängeleien kommt, ist längst nicht mehr schockierend und bedeutet auf keinen Fall, dass die Demokratie tot ist, oder auch nur stark fehlerhaft.“

Als nicht normal haben es aber die DPP und viele Bürger empfunden, dass KMT und TPP als Reaktion auf diesen zu erwartenden Gegenwind in den „Jetzt erst recht und um jeden Preis“-Modus schalteten, um ihre Pläne auf die schnellstmögliche Weise durchzubringen.

Dass die KMT etwa dazu überging, an allen diesen kritischen Tagen einfach per Handzeichen abstimmen zu lassen statt per Knopfdruck, hat viele erzürnt. Das war seit mehr als 30 Jahren nicht mehr angewendet worden – ist aber als Möglichkeit noch immer explizit vorgesehen. Allerdings saßen die Abgeordneten ja gerade nicht brav in Reih und Glied in ihren Fraktionsblöcken, sondern tummelten sich im ganzen Plenarsaal, skandierten Sprüche oder beschützen den Parlamentspräsidenten. Da wurde wohl manchmal eher grob geschätz als genau durchgezählt – es wurden teils mehr Stimmen registriert, als Abgeordnete der KMT im Saal waren.

Willkürliche Auslegung von parlamentarischen Verfahren, mangelnde Transparenz, kein Respekt für das Recht der Minderheit, zumindest gehört zu werden, Abkürzungen und „Might Makes Right“-Attitüden: Exakt solche Vorwürfe hatten 2014 schon die Sonnenblumen-Bewegung ausgelöst. „Wenn sie so handeln, haben sie auch etwas zu verbergen“ lautet der Verdacht, den KMT und TPP zum guten Teil selbst heraufbeschworen haben.

Selbst vor der bereits dritten Lesung am 28.5. habe die Mehrheit unangekündigt noch durchaus substanzielle Änderungen am Gesetzestext vorgenommen, beklagte etwa der DPP-Abgeordnete Chen Kuan-ting.

Der Verdacht: Es geht um mehr

Mein Eindruck ist: Der größte Teil des Widerstands über die Oppositionspläne entspringt nicht der Empörung daüber, was nun auf dem Tisch liegt. Sondern einem bei sehr vielen Taiwanern tief verwurzelten Misstrauen, wie ernst es der KMT mit der Verteidigung von Taiwans Demokratie wirklich ist. Das Verhältnis der Partei zur chinesischen Führung spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle.

Schon am 20.5. brachte ein Nikkei-Artikel solche Gedanken mit den Begriff vom befürchteten Power Grab auf den Punkt.

Der – von Demonstranten durchaus laut ausgesprochene – Verdacht lautet ungefähr so: „Die KMT hat begriffen, dass sie kaum Chancen hat, wieder die Regierung zu stellen, solange sie ihre Ideologie nicht grundlegend überarbeitet (wozu sie sich nicht durchringen kann). Also will sie unbedingt dieses Window of Opportunity der Parlamentsmehrheit nutzen, um die DPP-Regierung zu sabotieren und zu bekämpfen – um jeden Preis. Eine Schwächung von Taiwans Demokratie würden sie nicht nur in Kauf nehmen, sie wäre auch ganz im Sinne von Chinas KP, der ja gerade erst eine Gruppe von KMT-Abgeordneten in Peking die Aufwartung gemacht hatte. Ihr gemeinsamer Feind ist die DPP, die KMT hasst die DPP mehr als die KP, und obwohl sie es nicht laut sagt, würde sie Taiwans Freiheiten opfern, um ihre Macht wieder zu sichern.“

Man muss dieses Misstrauen kennen, um die Proteste zu verstehen. Und man muss wissen, dass unter den ca. 50 Prozent von Taiwans Bevölkerung, die dem „grünen Lager“ nahestehen, sehr viele so denken.

Der mächtige KMT-Fraktionschef Fu Kun-chi ist eine der Hassfiguren der Demonstranten – neben dem ehemaligen Sonnenblumen-Anführer und jetzigen TPP-Abgeordneten Huang Kuo-chang, dem viele persönlichen Verrat vorwerfen.

Huang Kuo-chang als Kläffer von Fu Kun-chi

Mit seiner teils fragwürdigen Vergangenheit (ich hatte schon erwähnt, dass Fu als „König von Hualien“ galt, wegen Straftaten rechtskräftig verurteilt wurde und eine Gefängnisstrafe absaß) scheint Misstrauen gegen ihn nicht aus der Luft gegriffen. Und: Fu hatte ja erst Ende April eine Gruppe mit 16 weiteren KMT-Abgeordneten – also etwa ein Drittel der Fraktion – nach Peking zu einem Treffen mit Xi Jingpings oberstem Taiwanzuständigen Wang Huning geführt. Dort hätten sie hinter verschlossenen Türen die Marschorder gegen die DPP bekommen, die sie nun befolgten. Solche Vorwürfe prägen die innenpolitische Stimmung in Taiwan.

Und was betonte Fu am Tag, als sich abzeichnete, dass die Gesetzesvorhaben durchkommen? KMT und TPP sollten ihre neuen Befugnisse nutzen, um mit einer „Sonderermittlungs-Einheit“ DPP-Politikern endlich lange vertuschte Korruption nachzuweisen. (Er hatte das schon Anfang Februar vorgeschlagen, kurz nach der Parlamentswahl.)

Einer der größten politische Erfolge der KMT nach 2008 sei die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Chen Shui-bian (DPP) wegen Korruption gewesen – und nach genau diesem Drehbuch wolle sie nun gegen die aktuelle DPP-Regierung vorgehen, mutmaßen Kritiker. Und dafür alle Machtmittel nutzen, die sie sich selbst schafft.

Was sagt die Parlamentsmehrheit dazu?

Die KMT betont, sie stehe fest auf dem Boden der Rechtmäßigkeit. Die DPP sei ein schlechter Verlierer und trauere der Zeit des „grünen Terrors“ nach, als sie noch mit eigener Parlamentsmehrheit durchregieren konnte. Sie werfe der KMT Korruption vor und sei doch selbst zutiefst korrupt. Einfluss aus China habe mit den Plänen gar nichts zu tun. Die DPP selbst habe einst dem Parlament Untersuchungsbefugnisse geben wollen. Und das Verfassungsgericht habe das ausdrücklich für zulässig erklärt.

Die DPP kontert die Vorwürfe, sie bekämpfe nun, was sie einst selbst gefordert hatte, mit dieser Gegenüberstellung: Ihre 2012 gescheiterten Pläne seien viel weniger weit gegangen als das, was KMT und TPP nun beschlossen hätten.

Die KMT verweist explizit auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2004: Das Parlament habe das Recht auf Untersuchungsbefugnisse. Darin heißt es allerdings auch:

„Unter den Prinzipien der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle wächst der Umfang der Zielpersonen oder Angelegenheiten, die der Untersuchungskompetenz des Legislativ-Yuans unterliegen, nicht unkontrolliert.“

Der grundlegendste Vorwurf, der für Betrachter von außen auch zunächst schwer zu widerlegen klingt, ist: Die DPP könnte nicht Entscheidungen des Parlaments nur akzeptieren, wenn es ihr passt – und dagegen mobilisieren, wenn sie Probleme befürchtet. Sie habe nun mal ihre Mehrheit verloren. Recht sei Recht, beschlossen sei beschlossen.

Wie geht es nun weiter?

Betrachtet man nur das Ziel, die neuen Gesetze zu verhindern, sind die dreimaligen Großdemonstrationen zunächst mal gescheitert. Das Parlament hat beschlossen, wie auch immer diese Entscheidung zustande gekommen sein mag. Die Demonstranten selbst scheinen das aber nicht als Niederlage zu begreifen. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass diese erste große Mobilisierung der Zivilgesellschaft seit 2014 nun gerade erst beginnt, sich zu formieren und auszurichten.

Diese Flagge war schon vor der Sonnenblumen-Bewegung 2014 zu sehen gewesen

Konkret wird nun interessant, wie es politisch weitergeht. Denn die Reformbeschlüsse sind noch nicht in trockenen Tüchern. Zwar hat Taiwans Präsident kein mit den USA vergleichbares Vetorecht. Aber das von ihm bestimmte Regierungskabinett (Exekutiv-Yuan) kann immerhin ein vom Parlament beschlossenes Gesetz einmalig wieder dorthin zurückverweisen. Das Parlament hat dann zwei Wochen Zeit, noch einmal abzustimmen, und es reicht eine einfache Mehrheit, damit das Gesetz dann doch in Kraft tritt.

Aber das heißt, es wird noch einmal mindestens einen Tag der parlamentarischen Beratung geben – und damit eine neue Gelegenheit für die Zivilgesellschaft, ihrer Meinung vor dem Parlament Ausdruck zu verleihen. Ob und wie die Abgeordneten sich von noch so großen Menschenmassen vor ihren Bürofenstern (in Taiwan gibt es ja keine Bannmeile ums Parlament herum) beeinflussen lassen, ist eine andere Frage. Aber zu übersehen oder überhören sind sie nicht. Der Exekutiv-Yuan kündigte jedenfalls schon an, diese Option ziehen zu wollen.

Und schließlich werden die neuen Gesetze voraussichtlich vor dem Verfassungsgericht landen, das dann über die Rechtmäßigkeit entscheiden wird. Sollten die Richter Bestimmungen für verfassungswidrig befinden, würden sie sofort außer Kraft gesetzt. Taiwans oberste Richter gelten als eher nicht scheu, bei kontroversen Themen klare Auslegungen zu treffen – man denke an die Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe 2017 (mein Video), oder die Abschaffung der Strafbarkeit von Ehebruch 2020.

Wie lange es aber bis zu einer Entscheidung dauern wird, wie sie ausfällt und die Reaktionen darauf sein werden, das ist im Moment noch völlig offen.

Blauer Vogel statt blaue Insel

Als 青鳥行動 (Bluebird Movement) wird diese Bewegung wohl in die Geschichte eingehen. Taiwans Blue Magpie (blaue Elster, hoffentlich setzt sich nicht „Dickschnabelkitta“ durch) ist natürlich ein prächtiger Vogel und ein prima Symbol: klug, wehrhaft, nur in Taiwan heimisch. Aber das allein erklärt noch nicht seine Wahl zum Symbol.

Bildquelle auf Bluesky (wie passend)

Tatsächlich liegt der Grund wohl bei Facebook. Als Demonstranten anfingen, ihre Posts mit der Ortsangabe 青島東路 (Qingdao East Road), dem Zentrum der Aktivitäten zu verlinken, wurden diese angeblich anderen nicht angezeigt. Zensur (Taiwaner wissen: Facebook hat ein Büro in Shanghai) oder Bug?

Egal, irgendwie fand sich kollektiv Abhilfe: Das Zeichen für Insel (dao) 島 aus „Qingdao“ ähnelt sehr dem für Vogel (niao) 鳥. Qing 青 bedeutet blau (oder auch grün, aber das führt hier zu weit), und so einigte man sich auf den blauen Vogel 青鳥.

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

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