Meine Eindrücke von der Feier für Taiwans neue Präsidentin
Über die Vereidigung und die erste Rede von Tsai Ing-wen ist auch in deutschen Medien viel berichtet worden. Dabei ging es immer vor allem um die China-Frage.
Weil ich bei der Zeremonie selbst dabei war, möchte ich einige Beobachtungen zu anderen Themen teilen. Denn die waren mindestens genauso interessant.
(Dies ist die ungekürzte Version eines Textes für die Deutsche Welle.)
Jedes Wort auf die Goldwaage gelegt
Wortwahl und Akzentsetzungen spielten bei der ganzen Zeremonie eine große Rolle. Wo würde Tsai sich von ihrem Vorgänger absetzen, wo die Kontinuität betonen? Im Wahlkampf hatte sie zum gesellschaftlichen Neuaufbruch aufgerufen, zugleich aber in heiklen Fragen wie der Chinapolitik Mäßigung und Ausgleich versprochen.
Dass es ihr nicht um einen kompletten Bruch geht, wurde bei der Vereidigung im Präsidentenpalast schnell deutlich. Der Akt folgte den formalisierten Regularien der Republik China.
Viele von Tsais Anhängern lehnen diesen Staat, der Taiwan 1945 in Besitz nahm und hier bis heute besteht, im Grunde ihres Herzens ab. Die rot-blaue Flagge mit der weißen Sonne – dem Parteiwappen der Kuomintang (KMT) – ist für sie ein Symbol der Fremdherrschaft.
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Einige boykottieren Zeremonie
„Ich fühle mich nicht wohl, wenn so viele von diesen Flaggen um mich sind“, begründete etwa der Parlamentsabgeordnete Freddy Lim seine Abwesenheit von den Feierlichkeiten. Der Heavy-Metal-Star, der mit der von ihm gegründeten New Power Party als Nachwirkung der Sonnenblumen-Protestbewegung ins Parlament eingezogen war, verteilte stattdessen lieber außerhalb der Absperrung Flugblätter zur Lage in Tibet.
Verbeugung vor Sun Yat-sen
Tsai zeigte dagegen keine Berührungsängste mit der Symbolik des früheren Nationalchina. Wie es das Protokoll vorsieht, verbeugte sie sich dreimal vor einem Porträt des KMT-Gründers und „Vaters der Nation“, Sun Yat-sen. Dann leistete sie mit ausgestrecktem Arm und erhobener Hand ihren Eid auf die 1947 verabschiedete Verfassung, die damals nicht nur für Taiwan, sondern für das Gebiet der heutigen Volksrepublik geschrieben worden war.
Wer nur diese Bilder sah, konnte kaum einen Unterschied feststellen zur Vereidigung von Tsais Vorgänger Ma Ying-jeou.
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Der KMT-Politiker begleitete seine Nachfolgerin in den Saal. Betont zivil gingen die beiden miteinander um. Für die Kameras gaben Sie sich mehrfach die Hand.
Als Oppositionsführerin war Tsai solchen Aufeinandertreffen jahrelang ausgewichen, weil sie Mas Rahmenbedingungen nicht akzeptieren konnte. Diesmal passten ihr die Umstände offenbar besser.
Taiwans Identität betont
Draußen vor dem Präsidentenpalast wurden ganz andere Schwerpunkte gesetzt. Zwar flatterten und prangten auch hier überall die Nationalflaggen der Republik China, und das Militär ließ Kapellen und Ehrenwachen aufmarschieren.
Das Showprogramm aber drehte sich komplett ums Taiwans eigene Identität. Schon das Bühnendesign ließ die Farben Rot und Blau vermissen, verwies in Grün und Türkis auf Taiwans Topographie und seine maritime Alleinlage.
Das Tanz- und Musikprogramm stellte mit Szenen aus Taiwans Geschichte heraus, dass die Insel eben nicht „schon immer ein Teil Chinas“ war, wie Peking gern behauptet.
Vielmehr erlebte sie eine Abfolge von Eroberungen und Zuwanderungsbewegungen, von Holländern und Spaniern über die Qing-Dynastie bis zur japanischen Kolonialzeit. Der Einzug der KMT-Truppen 1945 wurde ebenfalls in diesen Kontext eingereiht.
Eine Konstante waren Taiwans Ureinwohner-Stämme, die austronesischer Abstammung und nicht chinesisch sind. Heute stellen sie nur noch zwei Prozent der Bevölkerung, erleben als ideale Verkörperung der taiwanischen Identität aber eine kulturelle Renaissance. Dem Programm heute drückten sie mit Tanz- und Gesangstruppen sowie prominenten Solokünstlern ihren Stempel auf.
Sogar bevor Tsai und das Publikum gemeinsam die Nationalhymne anstimmten, sang zuerst ein Ureinwohner-Kinderchor. Tsai hat bereits angekündigt, als Präsidentin bei den Ureinwohner für die lange Zeit der Diskriminierung um Entschuldigung zu bitten und die rechtliche Stellung der Stämme zu stärken.
Darstellung der Diktatur
Die Zeit des „Weißen Terrors“, der fast 40-jährigen KMT-Diktatur per Kriegsrecht, wurde nicht ausgespart. Drastisch vor allem eine Szene, in der Soldaten gefesselte Zivilisten, die vor ihnen niederknien mussten, der Reihe nach erschossen. Zahlreiche Opfer der damaligen Zeit und ihre Nachkommen sahen das von der Ehrentribüne oder aus dem Publikum.
Für Tsai ist Übergangsjustiz (transitional justice) ein Kernpunkt ihrer Agenda. Sie verspricht, bei der Aufarbeitung und Wiedergutmachung des damaligen Unrechts weiter zu gehen als ihre Vorgänger.
„Der Stolz Taiwans“
Am Ende appellierte die Show unter dem Motto „Der Stolz Taiwans“ ans Selbstwertgefühl des Publikums und stellte alles heraus, mit dem eine Mehrzahl der Taiwaner sich heute identifizieren kann: Demokratie und Freiheit, Wirtschaft und Wohlstand und das heimische Essen.
Selbst ein tanzender Bubble-Tea-Becher trat auf, begann das Getränk doch von Taiwan aus seinen (in Deutschland nur kurzfristigen) Siegeszug.
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Der Stolz Taiwans
„Wir alle zusammen sind der Stolz Taiwans“, lautete die Botschaft. Die vielen Volksgruppen, die über die Jahrhunderte nach Taiwan einwanderten, hätten hier nach vielen Mühen eine demokratische, multikulturelle und wirtschaftlich entwickelte Gesellschaft erschaffen.
Innenpolitik im Mittelpunkt
An dieses Wir-Gefühl appellierte Tsai dann auch in ihrer halbstündigen Antrittsrede, in deren Mittelpunkt nicht China, sondern klar die Innenpolitik stand. „Wir führen unser Land in eine neue Richtung“, sagte sie und stellte gleich viele Probleme heraus, unter denen Taiwan heute leidet: Ein Wirtschaftsmodell, das seine besten Zeiten hinter sich hat, Umweltverschmutzung, soziale Spaltung oder drohender Pflegenotstand. Und vor allem die Zukunftssorgen der jungen Taiwaner, die bei den Wahlen zu ihren treuesten Unterstützern gehört hatten.
Die Antrittsrede von Tsai Ing-wen im Volltext: Chinesisch, Englisch
„Eine Präsidentin sollte nicht nur ihre Anhänger vereinen, sondern das ganze Land“, sagte Tsai. Immer wieder betonte sie die Notwendigkeit, Herausforderungen geeint anzugehen. Schon ihr Parteigenosse Chen Shui-bian hatte zu Beginn seiner Präsidentschaft 2000 auf die Kooperationsbereitschaft der KMT gehofft, war aber bitter enttäuscht worden.
Ob die KMT unter ihrer derzeitigen Vorsitzenden Hung Hsiu-chu, die vor allem in Sachen Chinapolitik als Hardlinerin gilt, sich diesmal anders verhält, ist unsicher. Anders als damals hat Tsais Partei aber selbst eine Mehrheit im Parlament und muss nicht fürchten, dass jedes Reformvorhaben blockiert wird.
„China“ gar nicht erwähnt
Auch sprachliche Feinheiten zeigten, wie Tsai sich von ihrem Vorgänger abgrenzt. Ma hatte gerne betont, die Menschen auf beiden Seiten der Taiwanstraße gehörten zur gleichen Volksgruppe, und spielte damit Pekings „Blut ist dicker als Wasser“-Propaganda in die Hände. Bei Tsai keine Spur davon. Die Begriffe „China“ (中國) und „Festland“ (大陸) vermied sie komplett, sprach lieber von der „anderen Seite der Taiwanstraße“.
Auffällig häufig sagte sie dagegen „dieses Land“, wenn sie von Taiwan sprach – vermied aber andererseits eine Aussage wie „Taiwan ist ein Land“. Solche Unschärfen setzt sie bewusst ein, denn auch für die KMT-Regierung hatte stets außer Frage gestanden, dass die Republik China ein souveränes Land sei.
Dieser Staat hat trotz UN-Ausschluss noch immer 22 diplomatische Verbündete, deren Flaggen den Boulevard vor dem Präsidentenpalast säumten. Bedeutendster Staatsgast bei der Vereidigung dürfte der Präsident von Paraguay gewesen sein. Auch ohne offizielle Beziehungen haben aber viele Staaten, darunter auch Deutschland, Niederlassungen in Taipeh und waren mit Gesandten vertreten.
Demonstrationen am Rande der Feier
Weil Tsai sich auf Ihrem gemäßigten Kurs von Unabhängigkeits-Befürwortern absetzt, die das System der Republik China gänzlich über Bord werfen wollen, machten einige von ihnen außerhalb der Zeremonie ihrem Unmut Luft. Hunderte Meter entfernt, aber im direkten Blickfeld von Tsai, hängten sie Transparente und grün-weiße Flaggen auf.
Auch in diesem Lager sind viele aber vor allem froh, dass die KMT nicht mehr an der Macht ist, und nehmen Tsai gegen Kritik aus Peking in Schutz.
Jetzt anhören: Mein Interview mit einem Anführer der Unabhängigkeitsbewegung
Am ganz anderen Ende des Spektrums stehen in Taiwan einige Pro-Vereinigungs-Gruppen, die mutmaßlich von Peking unterstützt werden. Eine von ihnen fuhr noch Stunden nach der Rede mit einem Lautsprecherwagen durch die von Tsai-Souvenirständen gesäumten Straßen, auf dem die Schriftzeichen „Gegen Taiwans Unabhängigkeit“ prangten.
Niemand regte sich darüber auf – so sehr haben die Taiwaner sich an Meinungsfreiheit gewöhnt. Es war ein besonderer Tag, an dem in Taiwans Demokratie aber vieles so lief wie immer.
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6 Antworten
Vorbei gekommen? Oh je!
Wie war das jetzt mit der Relevanz?
Warum sollte ich Dir den Spaß nehmen?
Jedenfalls waren Chinesen längst vor den Holländern oder anderen Ausländern da, wohl weil sie kein Interesse an der Insel hatten? So einfach kann man es sich machen, mit der Sekundärliteratur!
Sicher sind irgendwann Chinesen oder auch Japaner vorbeigekommen. Die Frage ist doch, warum sie nicht geblieben sind, und was die Relevanz für heute ist.
Von den Portugiesen würde ja auch niemand mehr reden, wenn der Begriff Formosa nicht wäre. Und dass die Spanier weniger Spuren hinterlassen haben als die Holländer, ist auch klar.
Nun, Taiwan ist ja nicht erst für die Holländer aus dem Meer aufgetaucht. Kannst Du auch mal was zur Frühgeschichte der Insel sagen und dazu auch das klassische chinesische Schrifttum recherchieren?
Tja, die Relevanz scheint mir gewaltig, wenn ich etwa in Oskar Weggel, Geschichte Taiwans, schaue:
https://www.evernote.com/shard/s214/sh/d6428c10-bfb1-4e5d-80cb-77735a692185/45e4a4b73daad77af93044b1e329b61f
Ich bin kein Historiker. Ich muss abwägen und priorisieren. Überzeuge mich.