11 Dinge, die ich beim Lesen von „Formosa Betrayed“ gelernt habe
Eines der wichtigsten englischen Bücher über Taiwan bietet auch interessante Einblicke in Amerikas Pläne mit „Formosa“ im Zweiten Weltkrieg. Vieles hatte ich vorher so noch nicht gelesen.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass „Formosa Betrayed“ von George H. Kerr lange Jahre ungelesen in meinem Regal stand. Ich wusste um die Bedeutung dieses 1965 erschienen Buches, aber ich ging davon aus, dass es vor allem eine Schilderung des 228-Massakers von 1947 enthielt. Durch diverse Museumsbesuche und das Lesen anderer Werke hielt ich mich für ausreichend vorgebildet.
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Als ich es mir nun doch endlich vornahm, war ich überrascht von der Informationsdichte und dem gar nicht trockenen, fast süffisanten Schreibstil – und davon, dass Kerr in seiner Schianlderung einige Jahre früher einsetzt, nämlich mit dem Kriegseintritt Amerikas 1941.
Über die Ereignisse dieser Jahre, Taiwan betreffend, wusste ich eher wenig. So lernte ich schon aus den ersten 60 Seiten eine Menge. Hier ist eine kurze Zusammenfassung, in der ich vor allem Kerrs Sicht wiedergebe und seine Worte zusammenfasse.
1. Die USA waren zunächst völlig planlos
Ende 1941, als die Vereinigten Staaten nach Japans Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg eintraten, wussten sie herzlich wenig über Taiwan. Dabei spielte es in der japanischen Kriegsmaschine als Sprungbrett nach Südostasien eine sehr wichtige Rolle. Kerr beschreibt, dass 1941 die Unterlagen des Militärgeheimdienstes zu Taiwan großenteils auf dem Stand des Ersten Weltkriegs waren. Eine Karte des äußerst wichtigen Hafens von Keelung etwa stammte von 1894. Außerdem gab es einen Satz topographischer Karten, wie man sie in Japan in Läden kaufen konnte.
Das alles änderte sich dann ziemlich schnell. Das Militär baute eine neue Abteilung auf, trommelte Experten (wie Kerr) zusammen und häufte innerhalb weniger Monate eine Masse an Informationen an. Eine wichtige Quelle dabei waren westliche Missionare, die viele Jahre in Taiwan gelebt hatten. Natürlich wertete man auch alle japanische Quellen aus, die man in die Finger bekam.
Einer der Gründe, Informationen über Taiwan zu sammeln, war natürlich das Identifizieren „lohnender“ Ziele für Bombenangriffe: Kasernen, Bunker, Häfen, Industrieanlagen usw.
2. Die KMT hatte noch weniger Ahnung von Taiwan
Um mehr über den Stand der Dinge auf Taiwan zu erfahren, auch über mögliche Spannungen zwischen chinesischer Bevölkerung und japanischen Kolonialherren, wandten die Amerikaner sich auch an die Regierung der Republik China. Schließlich war man verbündet gegen die Japaner.
Was Kerr über die Berichte aus Chungking schreibt, wohin Chiang Kai-sheks Regierung sich zurückgezogen hatte, liest sich allerdings wie eine Komödie. Viele der angeblichen Informationen waren frei erfunden oder auf Basis längst vergangener Ereignisse umgedichtet.
Kerr, der von 1937 bis 1940 in Taiwan gelebt hatte und auf der Insel viel herumgekommen war, konnte einige dieser Erfindungen sofort enttarnen – etwa einen angeblichen Aufstand von 9000 Soldaten gegen ihre japanischen Offiziere, den es nie gegeben hatte.
„Offensichtlich erzählten die Chinesen uns, wovon sie glaubten, dass wir es hören wollten“, schreibt er. „Drohender Gesichtsverlust machte es unmöglich, dass sie zugaben, keine echten Erkenntnisse aus Taiwan zu haben.“
3. Amerika streute Falschinformationen über Taiwan
Als Teil der „schwarzen Propaganda“, um die Moral und den Widerstandsgeist der Japaner zu schwächen, verbreiteten die USA „hier und da rund um die Welt“ irreführende Geschichten über anti-japanischen Widerstand in Taiwans Bevölkerung.
Diese frei erfundenen Gerüchte sollten die Japaner davon abhalten, Taiwaner für den Fall einer Invasion als eine Art Volkssturm („Home Guard“) auszurüsten. Außerdem sollten möglichst viele der in Taiwan stationierten japanischen Truppen mit unproduktiven Wachdiensten beschäftigt werden.
4. Taiwans Schicksal war offen
Zwischen 1942 und 1944 sahen die Planspiele nach einem Sieg über Japan verschiedene Möglichkeiten für Taiwan vor: Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, Übergabe an die Republik China oder vorübergehende Verwaltung durch die Alliierten („trusteeship“), bis die Menschen auf Taiwan per Volksabstimmung selbst entscheiden würden.
Kerr plädierte dafür, Taiwans geostrategischen Wert zu erkennen. Außerdem sei es durch seinen Reichtum und technische Entwicklung dem Festland zu weit voraus, um problemlos unter chinesische Kontrolle geraten zu können. Es war „nicht japanisiert, sondern modernisiert“, so Kerr. Durchsetzen konnte diese Sichtweise sich nicht.
5. In Washington gab es damals schon Chinaversteher
„China war ein enormes Problem“, schreibt Kerr. Chiang Kai-shek als Verbündeter der USA kassierte massive Unterstützung, zögerte aber im Kampf gegen die Japaner und war dabei, den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung gegen die Kommunisten zu verlieren.
Nach außen hin habe man ihn als „großen Führer der Demokratie in Asien“ und China als Großmacht verkaufen müssen, so Kerr, aber die meisten Fernost-Experten in Washington hätten sich keine Illusionen gemacht.
Dennoch war im Außenministerium schon 1943 ausgemachte Sache, dass man Taiwan der Republik China ohne Wenn und Aber überlassen würde. Taiwan war nach dieser Sichtweise „der östlichste Vorposten Chinas, dummerweise – aber ohne Konsequenz – durch die Taiwanstraße vom Festland abgeschnitten.“
Kerr beschreibt, dass in Amerika damals ein „missionarischer“ Blick auf China verbreitet war. China konnte in den Augen seiner Verfechter nichts falsch machen. Einwände bügelten sie als „imperialistisch“ ab, als würde man vorschlagen, hungernden Kindern kein Essen zu geben: „Was würden unsere chinesischen Freunde denken?“
Er fasst zusammen: „Die Tragödie der Einwohner von Formosa war, dass ihre Insel nicht weit genug vom Kontinent entfernt lag, um die Trennung permanent zu machen und das Leben an der „frontier“ vor Einflussnahme zu schützen. Die Insel war zu klein, um unabhängig zu sein, und zu groß und reich, um ignoriert zu werden.“
6. Chiang Kai-shek sollte in Kairo gar nicht dabei sein
Sein Treffen mit Amerikas Präsident Roosevelt und Großbritanniens Premier Churchill Ende November 1943 in Kairo war wohl eine der persönlichen Sternstunden von Chiang Kai-shek. Alliierter auf Augenhöhe!
Natürlich hängt ein großes Foto noch heute prominent in der Ausstellung der Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle in Taipeh.
Nach Kerrs Ausführungen war Kairo aber ursprünglich als anglo-amerikanischer Gipfel geplant, auf dem FDR und Churchill sich auf ihr Treffen mit Stalin in Teheran vorbereiten wollten.
Weil in Amerika aber 1944 eine Wahl anstand, habe FDR gegen Churchills Widerstand durchgesetzt, Chiang und seiner Frau einer große Bühne zu bieten. Madame Chiang, die in den USA studiert hatte, war dort zu dieser Zeit extrem populär und hatte sogar eine Rede vor beiden Kammern des Kongresses gehalten.
Nun mussten die Verbündeten zur Gesichtswahrung auch mit einer Erfolgmeldung heimkehren, und das war die „Erklärung von Kairo“, in der unter anderem die „Rückgabe“ Taiwans an die Republik China in Aussicht gestellt wurde („shall be restored to…“).
Erwartungsgemäß hat Kerr über die Erklärung (die übrigens nicht unterzeichnet wurde und keine völkerrechtliche Gültigkeit hat) nichts Gutes zu sagen: „Eine gefährliche Falle. Einige der Schäden, die sie Amerikas Interessen zufügte, können nie behoben werden“, schrieb er 1965.
7. Die USA planten die Invasion und Besatzung Taiwans
Als eines der möglichen Szenarien arbeiteten Kerr und die anderen Spezialisten in Washington detaillierte Pläne für eine Eroberung Taiwans aus. Dabei ging es auch bereits darum, wie die Insel nach der Einnahme verwaltet werden könnte. Würde man sich auf eine Unterstützung der chinesischstämmigen Taiwaner verlassen können? Könnten die USA selbst Taiwan als Basis für Angriffe auf die japanischen Hauptinseln nutzen?
Zeitweise wurden mehr als 2000 amerikanische Offiziere (!) konkret für eine mögliche Besatzung und Verwaltung Taiwans ausgebildet. Man plante für Polizeiaufgaben, Gesundheitsversorgung, Erziehungswesen, Transport, Handel und Industrie. Wie lange eine Besatzung dauern könnte, galt als völlig offen.
8. Der Vorstoß nach Japan sollte eigentlich über Taiwan laufen
1943 begannen die Planungen für einen Angriff auf Taiwan mit dem Ziel, Japans Einflussgebiet mitten zu durchtrennen. Über Taiwan lief der Nachschub Richtung Indonesien, Burma, Philippinen usw. Eine Invasion Taiwans wäre riskant gewesen, weil es so gut zu verteidigen ist. Doch nach seiner Einnahme hätte es als Basis für Angriffe auf Japans Hauptinseln und auf japanische Truppen in China dienen können.
Zuständig an dieser Front war Amerikas Admiral Nimitz, und die Planungen liefen unter dem Codenamen „Operation Causeway“. Taiwan selbst wurde „Island X“ genannt.
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Die Japaner waren natürlich auf einen Angriff vorbereitet und hatten 170.000 Soldaten auf Taiwan stationiert. Die damals fünf Millionen Menschen zählende Zivilbevölkerung hätte sich „zwischen Hammer und Amboss“ wiedergefunden, schreibt Kerr.
Die Republik China hätte bei so einer Operation keine Rolle gespielt, denn Chiangs ins Inland zurückgetriebene Armee hatte gar keine Marine. „Kein Chinese konnte nach Formosa, wenn wir ihn nicht dorthin brachten“, beschreibt Kerr die Situation.
Im Lauf des Jahres 1944 entschied das Militär sich dann aber, wohl auch auf Drängen Roosevelts, zu einer neuen Strategie. Amerika kämpfte sich auf anderen Wegen Richtung Japan vor: Die Schlachten von Iwo Jima und Okinawa sind heute Synonyme für die Grausamkeit des Kriegs im Pazifik.
Taiwan darf sich wohl glücklich schätzen, diesem speziellen Schicksal entgangen zu sein.
9. Die Luftangriffe auf Taiwan waren verheerend
Am 14. Novemer 1944 bombardierten die USA erstmals Taiwan. Der Angriff mit mehr als 1000 Maschine wurde von Flugzeugträgern im Pazifik sowie von Basen in Südwestchina aus geflogen. Danach, so Kerr, sei der Himmel über Taiwan selten frei von amerikanischen Flugzeugen gewesen.
Ende Mai 1945 – der Krieg in Europa war schon vorbei – folgte dann der Großangriff, bei dem große Teile von Taipehs Stadtzentrum einem Feuersturm zum Opfer fielen. Die beiden großen Hafenstädte Keelung und Takao (Kaohsiung) wurden „quasi ausradiert“, schreibt Kerr. Fabrikanlagen und Kraftwerke wurden dagegen bewusst ausgespart – man würde sie noch gebrauchen können.
10. Taipehs chinesische Wohnviertel wurden verschont
Beim dem großen Angriff auf Taipeh 1945 wurden bewusst vor allem Ziele im japanischen Regierungsviertel („Jonai“) bombardiert. Die alten Siedlungskerne Dadaocheng („Daitotei“) und Wanhua („Manka“) dagegen sparte man aus, um die chinesischstämmige Bevölkerung nicht zu sehr aufzubringen.
Dies sei bemerkt worden, so Kerr, und einer der Gründe für die Popularität der USA nach der Invasion gewesen. Und es ist der Grund dafür
Dieser Entscheidung ist es wohl auch zu verdanken, dass das Viertel rund um die Dihua Street in Dadaocheng heute noch als „Taipehs Altstadt“ gelten kann.
Kerr persönlich hatte auch Taipehs großen Shinto-Schrein als Bombenziel vorgeschlagen, obwohl religiöse Stätten nach der üblichen Kriegsregeln zu verschonen waren. Er argumentierte, dass der Schrein vor allem ein Symbol japanischer Staatsmacht war. Damit konnte er sich aber nicht durchsetzen, der Schrein blieb intakt.
Nach der Übernahme Taiwans ließ die KMT-Regierung ihn dann abreißen, heute steht dort das Yuanshan Grand Hotel.
11. Flugblätter machten den Taiwanern Hoffnung
Als „weiße Propaganda“ (im Gegensatz zur verdeckten, also „schwarzen“, s.o.) warfen die Amerikaner auch hunderttausende Flugblätter über Taiwan ab. Auf Chinesisch und Japanisch riefen sie die Taiwaner auf, Japan nicht mehr zu unterstützen, und versprachen im Namen von FDR und CKS Befreiung. Abgedruckt waren sowohl die Präambel der Vereinten Nationen als auch die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte. Eine Karikatur zeigte einen Kraken in Gestalt eines japanischen Offizierra, der Taiwan im Würgegriff hatte.
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Vor Kriegsende starb FDR, und der unerfahrene Truman wurde Präsident. Für Taiwan interessierten sich weder er noch sein Außenminister. Junge „China Firster“ im Außenministerium gaben die Richtung vor, und für sie war es keine Frage, dass Tawain an die Republik China gehen sollte.
Außerdem herrschte in den USA nach Kriegsende im August 1945 eine „Holt die Jungs nach Hause“-Stimmung, und eine langwierige Besatzung Taiwans hätten weder Kongress noch Öffentlichkeit akzeptiert. Auch der neuen Befehlshaber für China, General Wedemeyer, hatte kein Interesse, sich mit Details aufzuhalten, und bereitete den Weg für die Übernahme Taiwans durch Chiang Kai-sheks Truppen.
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„Formosa Betrayed“ steht im Volltext hier online. Wer sich das gedruckte Buch zulegen möchte, wird sicher fündig im „Taiwan Bookstore“ in der Nähe der National Taiwan University in Taipeh.
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