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Nicht verfassungswidrig: Taiwans Todesstrafe bleibt in Kraft

Taipei Prison: Gefängnis

Verurteilte Mörder können in Taiwan auch weiterhin hingerichtet werden. Das Verfassungsgericht hat heute entschieden, dass die Todesstrafe nicht grundsätzlich verfassungswidrig ist.

Die Richter verlangten allerdings höhere Hürden und Reformen, um die Rechte von Verurteilten im Verfahren zu stärken. Diese müssten etwa einen Pflichtverteidiger gestellt bekommen.  Zudem dürfe die Todesstrafe nur noch für Mord in besonders schweren Fällen verhängt werden. Zwar ist dies de facto bereits seit Jahrzehnten der Fall, bisher war sie aber theoretisch auch für Vergehen wie Hochverrat oder Drogenhandel möglich. Die Richter hatten sich mit einer Beschwerde aller 37 derzeit zum Tode verurteilten Häftlinge befasst.

[Die heutige Entscheidung im chinesischen Original]

Die Entscheidung war mit Spannung erwartet worden, weil Taiwan einem möglichen Ende der Todesstrafe noch nie so nahe war. Die Regierung nennt die Abschaffung ein Fernziel, schreckt aber vor einem entsprechenden Gesetz zurück – die öffentliche Unterstützung reiche noch nicht aus. Laut Umfragen sprechen sich mehr als 80 Prozent der Taiwaner für die Todesstrafe aus. Für viele Menschen ist sie die einzig angemessene Bestrafung für besonders grausame Morde.

„Wenn man in Umfragen Alternativen zur Todesstrafe erklärt, fallen auch die Ergebnisse anders aus“, sagte bei einer Veranstaltung in Taipeh kürzlich Lin Hsinyi. Sie setzt sich seit mehr als zehn Jahren als Leiterin der „Taiwan Alliance Against the Death Penalty“ (TAEDP) gegen die Todesstrafe ein und erhält dafür regelmäßig Drohungen und Todeswünsche von aufgebrachten Bürgern – vor allem, wenn es wieder einmal einen besonders grausamen und aufsehenerregenden Mord gab. Ihre NGO besucht regelmäßig die Häftlinge im Todestrakt und unterstützte sie bei der nun entschiedenen Verfassungsbeschwerde. Sie half auch auf dem langen Rechtsweg zur Aufhebung mehrerer zu Unrecht ergangener Verurteilungen. „Kein Land hat die Todesstrafe je abgeschafft, weil sie in der Bevölkerung unpopulär war“, forderte Lin mehr Mut von Taiwans Politikern.

[Mein Bericht über Lin Hsinyi und die TAEDP von 2020]

„Ja, die schwersten Verbrechen verlangen nach der härtesten Strafe“, sagte sie. „Aber welche ist das?“ Durch ihre vielen Besuche im Todestrakt sei ihr klar geworden, dass viele der Täter nicht mehr die Person seien, die das Verbrechen beging. „Wenn sie verstehen, dass sie etwas falsch gemacht haben, dass ihre Opfer aber nie zurückkommen werden – das ist für sie die schlimmste Bestrafung“, so Lin.

Lin Hsinyi und der Anwalt Jeffrey Li

Auch Vertreter der EU ermuntern die Regierung immer wieder zu einem Kurswechsel – doch Argumente, auch Frankreich oder Großbritannien hätten Hinrichtungen einst gegen den Willen der damaligen Bevölkerungsmehrheit abgeschafft, verfangen nicht. Andere Argumente lauten, Taiwan als Demokratie müsse auch die Menschenrechte von Tätern garantieren und sich deutlich von China absetzen, das mehr Menschen tötet als alle anderen Länder. Als Gegenargument heißt es meist: Die USA und Japan zeigten, dass Demokratie und Todesstrafe sich nicht ausschlössen. Ein Verbot von Hinrichtungen in Taiwan hätte auch Aktivisten in Japan und Südkorea Auftrieb gegeben, sagte Lin. In Südkorea gibt es die Todesstrafe zwar noch, sie wurde aber seit 1997 nicht mehr vollstreckt.

[Mein Blogeintrag zur Todesstrafe von 2016]

Ähnlich wie Südkorea war Taiwan bis Ende der 1980er Jahre eine Diktatur. Unter dem damals herrschenden Kriegsrecht wurden zahlreiche Vergehen mit dem Tode bestraft, häufig gab es Unrechtsurteile und unter Folter erzwungene Geständnisse. Noch in der Frühphase der Demokratisierung vor der Jahrtausendwende vollstreckte Taiwan meist mehrere Dutzend Todesurteile pro Jahr.

Nach dem ersten Machtwechsel zur auch derzeit regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) reduzierte der damalige Präsident die Hinrichtungen und erklärte 2006 ein Moratorium, das bis 2010 hielt. Letzter Schritt vor dem Vollzug einer Todesstrafe ist eine Anordnung des Justizministers. Als der damalige Minister laut sagte, er werde trotz geltender Rechtslage keine Urteile abzeichnen, zog er den Zorn vieler Bürger auf sich und musste zurücktreten. Von 2010 bis 2016 richtete Taiwan 33 Straftäter hin.

[Mein Bericht von 2013: Internationale Experten über die Todesstrafe in Taiwan]

Dann übernahm wieder die DPP die Regierung, und bis heute gab es nur zwei weitere Hinrichtungen – die letzte 2020. Gestärkt durch die Umfrageergebnisse wirft die Oppositionspartei Kuomintang (KMT) der Regierung Untätigkeit und Missachtung des Rechts vor.

Gegner der Todesstrafe kritisieren neben der grundsätzlichen Legitimität auch den Ablauf von Hinrichtungen in Taiwan. Weder die Verurteilten noch ihre Angehörigen werden vorab informiert. Sie leben in ständiger Unsicherheit, jeder Tag kann der letzte sein. Nach einer Henkersmahlzeit erhalten Häftlinge ein Beruhigungsmittel und werden dann durch einen aufgesetzten Schuss von hinten in Herz getötet – oder in den Kopf, wenn sie ihre Organe spenden. Nicht einmal der einzelne Schütze bekäme anschließend psychologische Betreuung, so Lin – nur eine finanzielle Prämie.

[Meine persönliche Meinung habe ich schon 2010 in einem Leserbrief aufgeschrieben]

Alle aktuellen Verfassungsrichter wurden während der DPP-Regierungszeit ernannt. Mit ihrer Entscheidung, mit der sie sich fast bis zum letztmöglichen Moment Zeit ließen, widerlegen sie den im Vorfeld geäußerten Verdacht, sie könnten unter Missachtung des Mehrheitswillens eine politische Entscheidung treffen.

Wirklich zufrieden dürfte nun niemand sein: Gegner der Todesstrafe nicht, weil „wahrscheinlich 20 oder 30 Jahre bis zum nächsten verfassungsrechtlichen Anlauf vergehen werden“, wie Aktivistin Lin vermutet. Befürworter nicht, weil die Richter neue Hürden einzogen und die Regierung nun kaum eine Welle von Urteilen vollstrecken wird. Und die Regierung auch nicht, weil die Opposition sie weiter mit dem Thema vor sich hertreiben wird.

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Klaus Bardenhagen

Klaus Bardenhagen

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