Der total verrückte Verkehr in der abgefahrenen Stadt Taipeh
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Willkommen in Taipeh.
Fast 100 Kabelfernseh-Kanäle empfange ich in hier, aber auf eine Sendung wie „Der 7. Sinn“ bin ich noch nie gestoßen. Nötig wäre sie, könnte meinen, wer deutsche Verhältnisse gewohnt ist. Die guten Ratschläge meines alten Fahrlehrers musste ich hier jedenfalls schnell über Bord werfen.
Dabei funktioniert Taiwans Verkehr nur nach anderen Regeln. Die aber muss man kennen.
1. Regel: Wer Platz hat, fährt.
Als Fußgänger bin ich ständig in Alarmbereitschaft, denn viele kleinere Straßen haben keine Fußwege. Den Platz teilen sich Autos, Fußgänger und vor allem Motorroller, Taiwans Verkehrsmittel Nummer Eins.
Wenn ich zu Fuß die Straße überquere, muss ich trotz Grün damit rechnen, dass Abbieger haarscharf vor oder hinter mir vorbeiziehen. In so einem Fall niemals plötzlich stehen bleiben! Damit rechnet nämlich wirklich keiner. Unbeirrt weitergehen, die anderen richten sich schon danach.
2. Regel: Augen immer geradeaus.
Der Blick in den Rückspiegel oder gar über die Schulter ist fahrlässig, lenkt er doch die Aufmerksamkeit davon ab, was vorne passiert. In Deutschland darf ich hinter mir niemandem den Weg abschneiden und kann dafür einigermaßen sicher sein, dass keiner plötzlich vorne auf meine Fahrbahn zieht.
In Taiwan funktioniert es genau umgekehrt. Jederzeit können andere ohne Vorwarnung auf die eigene Spur wechseln. Dann heißt es schnell ausweichen und darauf bauen, dass der eigene Hintermann aufpasst. Das hat auch Vorteile: Angenommen, ich gerate in einer Einbahnstraße frontal in einen Pulk entgegenkommender Roller. In Deutschland hieße das: kreischende Bremsen, schepperndes Blech und Überstunden für die Polizei.
In Taipeh würden die Motorroller sich teilen wie ein Fischschwarm, links und rechts vorbeirauschen und sich hinter mir wieder schließen, und niemand wäre auch nur vom Gas gegangen.
3. Regel: Alles passt auf einen Motorroller.
Ob der halbe Hausrat, die ganze Familie, explosive Gasflaschen oder der treue Golden Retriever – es gibt nichts, was Taiwaner nicht auf zwei Rädern transportieren. Und solange die Kinder wenigstens einen Schutzhelm tragen, denkt sich niemand was dabei.
Für viele Taiwaner ist der Motorroller – oft aus heimischer Produktion – die einzige Familienkutsche. Und auch, wer sich eigentlich in Auto leisten könnte, hält oft den Zweirädern die Treue, kommen sie doch flotter durch den Stadtverkehr.
An jeder roten Ampel schlängeln sie sich nach vorn durch, haben eigene Fahrspuren, und bei einem Wolkenbruch wird halt der Regenmantel unter dem Sitz hervorkramt.
4. Regel: Parkplatz ist in der kleinsten Lücke.
23 Millionen Taiwaner fahren sechs Millionen Autos, aber 14 Millionen Roller und Motorräder. Wer in Taipeh seinen Motorroller abstellen will, muss oft mehrmals um den Block fahren oder kreativ parken, denn auf jedem halbwegs legalen Stellplatz stehen schon mindestens zwei andere, Sattel an Sattel.
Am besten greift man beherzt zu und wuchtet die nebenstehenden Boliden zur Seite, sobald sich eine Lücke anbietet.
5. Regel: Erfahrung macht den Meister.
Taiwans Fahrschüler lernen nur auf abgegrenzten Verkehrsübungsplätzen und legen dort auch die Prüfung ab. Nur wer den Schein in der Tasche hat, darf sich ins Verkehrsgetümmel stürzen – aus Sicherheitsgründen.
Wer das weiß, wundert sich über nichts mehr.
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9 Antworten
Hallo Taiwan Experten,
Für die drei Wochen Taiwan würde ich gern ein Auto mieten. Allerdings finde ich keinen bezahlbaren Vermieter, der mir 1 Mio € Haftpflicht anbietet. Ebenso komm ich auch nicht dahinter, wie hoch die gesetzliche Deckungssumme ist.
Kann hier jemand helfen?
Danke & viele Grüße
Markus
Hallo, diese Frage wird z.B. hier diskutiert: https://www.facebook.com/groups/287698284706718/permalink/1696416410501558/
Ist das schön: Ihr habt alle recht. Finde ich.
@Dennis: Prima beobachtet. Arme Polizisten.
Was die wohl verbrochen haben, um diesen Dienst schieben zu müssen? 😉
In dem Zusammenhang hat es etwas Erleuchtendes, sich mit Taiwanern zu unterhalten, die schon mal Urlaub in Vietnam gemacht haben und die dann halb entsetzt, halb erstaunt von „den vielen Motorrollern“ und den „lebensgefährlichen Verkehrsverhältnissen“ dort erzählen. Alles ist anscheinend immer noch irgendwie steigerbar.
Nunja, ich frage mich ob es etwas mit Kooperation zu tun hat, wenn man denjenigem die Spur lässt, der sowieso schon zur Hälfte auf der eigenen Spur ist oder es lediglich das letzte Mittel zur Vermeidung eines Blechschadens ist. 😉
Einen Vorteil gibt es. In Taiwan besteht niemand auf seinem „Recht“ und lässt einen z.B. beim Spurwechsel nicht rein wie oft in D. Es wird immer reagiert, ausgewichen, reingelassen. Aus dieser Perspektive betrachtet fahren die Taiwaner kooperativer als es in D oft der Fall ist.
Sehr gut geschrieben. Ich war ein bisschen schockiert, als ich all diese Motoroller zum ersten Mal sah, ich glaubte ich war im falschen Film. Hab auch darüber geschrieben.
http://mykafkaesquelife.blogspot.com/2010/07/taiwan-scooterland.html
Neben Italien und China ist Taiwan eines der grösten Motorroller produzierenden Länder der Welt.
6. Regel: Eine rote Ampel erfüllt nur dann den Zweck eines Haltesignals, wenn es den Verkehrsteilnehmern aufgrund des herannahenden Seitenverkehrs nicht mehr möglich ist, ihre Fahrt fortzusetzen. Die üblichen 5-10 Sekunden bis zum Wechsel der Grünphase können also trotz roter Ampel noch genutzt werden.
7. Regel: Verkehrspolizisten haben schickte Westen, tolle Leuchtstäbe, laute Pfeifen und können winken. Das wars. Sie tun mir aber auch irgendwie leid. Ist schon scheiße stundenlang in stinkenden Abgasen und zumeist noch im Regen zu stehen und von keiner Sau beachtet zu werden.
8. Regel: Wer den längsten hat…nee, wer am längsten hupt, der hat Recht. Mein inoffizieller mitgehörter Huprekord liegt bei mehr als 20 Sekunden.
9. Regel (a): Straße ist das, worauf man mit einem Motorroller fahren kann, z.B. Bürgersteige.
9. Regel (b): Parkplatz ist das, worauf man mit einem Motorroller parken kann, siehe (a).
10. Regel: Zebrastreifen sind vorhanden. Eine Funktion dafür nicht.